14
Während ich mich aufwärmte, erzählte mir Bea, wie die Nebelburg in den Besitz der Familie Aldaya gelangt war. Es war eine Schauergeschichte, die ebensogut aus Julián Carax’ Feder hätte geflossen sein können. 1899/1900 war das Haus vom Architektenbüro Naulí, Martorell und Bergadà unter der Schirmherrschaft eines extravaganten katalanischen Financiers namens Salvador Jausà erbaut worden, der nur ein Jahr darin leben sollte. Bereits mit sechs Jahren Waise und aus einfachen Verhältnissen stammend, hatte der Magnat sein Vermögen größtenteils in Kuba und Puerto Rico zusammengetragen. Aus der Neuen Welt brachte er aber nicht nur ein Vermögen mit: Er kam in Begleitung einer nordamerikanischen Gattin, einer blassen, zerbrechlichen jungen Dame aus Philadelphias vornehmer Gesellschaft, die kein Wort Spanisch sprach, und eines farbigen Dienstmädchens, das seit seinen ersten Kubajahren in seinem Dienst gestanden hatte und einen als Harlekin gekleideten Affen in einem Käfig sowie sieben Überseekoffer Gepäck mitführte. Bis zum Kauf eines Wohnsitzes, der dem Geschmack und Verlangen Jausàs entsprach, bezogen sie mehrere Zimmer im Hotel Colòn auf der Plaza de Cataluña.
Niemand zweifelte daran, daß das Dienstmädchen — eine Schönheit aus Ebenholz mit einem Blick und einer Figur, die, wie es in den Gesellschaftsreportagen hieß, zu Herzjagen führten — seine Geliebte und Lehrmeisterin in unbeschreiblichen Vergnügungen war. Daß sie eine Hexe und Zauberin war, verstand sich ohnehin. Sie hieß Marisela, oder zumindest nannte Jausà sie so, und in Kürze wurden ihr Aussehen und ihr Verhalten zum Lieblingsärgernis der Gesellschaften, die die Damen aus gutem Hause gaben, um Baisers zu kosten und die Zeit und die herbstliche Hitze totzuschlagen. Gerüchte machten die Runde, wonach es diese Afrikanerin auf dem Manne sitzend mit diesem trieb, ihn reitend wie ein brünstiges Weib, was gegen mindestens fünf Todsünden verstieß. Um das Maß vollzumachen, hatte Jausà auch noch die Unverfrorenheit, jeweils am Sonntagvormittag mit seiner Gattin und Marisela in seinem Wagen spazierenzufahren und so der Jugend auf dem Paseo de Gracia unterwegs zur Elf-Uhr-Messe ein Schauspiel des Sittenverfalls zu bieten.
Zu jener Zeit war Barcelona schon vom Jugendstilfieber erfaßt, aber Jausà gab den für den Bau seiner neuen Bleibe angeheuerten Architekten unmißverständlich zu verstehen, daß er etwas anderes wollte. Anders war das bevorzugte Adjektiv seines Vokabulars. Er war jahrelang an der Reihe neugotischer Villen vorüberspaziert, die sich die Magnaten des Industriezeitalters in der Fünften Avenue zwischen der 58. und der 72. Straße auf der Ostseite des Central Park hatten bauen lassen. Er wünschte sich seinen Wohnsitz fern von der Stadt, in der damals noch relativ öden Gegend der Avenida del Tibidabo, um, wie er sagte, Barcelona aus der Distanz zu betrachten. Als einzige Gesellschaft begehrte er einen Park mit Engelsstatuen, die gemäß seinen Anweisungen an den Spitzen eines siebenzackigen Sterns zu stehen hatten. Zur Ausführung seiner Pläne sandte Salvador Jausà seine Architekten für drei Monate nach New York, damit sie die Wahnsinnsbauten studierten, welche errichtet worden waren, um Commodore Vanderbilt, die Familie von Johann Jacob Astor, Andrew Carnegie und die übrigen fünfzig goldenen Familien zu beherbergen.
Ein Jahr später sprachen die drei Architekten in seinen Gemächern im Hotel Colón vor, um ihm das Projekt zu präsentieren. In Mariselas Anwesenheit hörte Jausà ihnen schweigend zu und beauftragte dann das Architektenbüro, den Bau ungeachtet der Kosten in einem halben Jahr zu errichten. Sieben Monate später, im Juli 1900, zogen Jausà, seine Gattin und das Dienstmädchen Marisela in das Haus ein. Im August dieses Jahres waren die beiden Frauen tot, und die Polizei fand Salvador Jausà nackt und mit den Händen an den Sessel seines Arbeitszimmers gefesselt. Im Polizeirapport stand, die Wände des ganzen Hauses seien mit Blut verschmiert, die Engelsstatuen rund um den Park verstümmelt und ihre Gesichter nach Art von Stammesmasken bemalt gewesen. Auf den Sockeln seien Spuren von schwarzen Altarkerzen gefunden worden. Die Untersuchung dauerte acht Monate.
Laut den Ermittlungen der Polizei schien alles darauf hinzudeuten, daß Jausà und seine Gattin von Marisela, in deren Räumen mehrere Fläschchen eines Pflanzenextrakts gefunden wurden, mit diesem vergiftet worden waren. Aus irgendeinem Grund hatte Jausà überlebt, doch die Folgeerscheinungen des Giftes waren schrecklich — er verlor das Gehör, war teilweise gelähmt und litt unter ungeheuren Schmerzen. Señora Jausà wurde auf dem Bett in ihrem Zimmer gefunden, nur mit ihren Juwelen und einem Brillantarmband angetan. Die Polizei vermutete, daß sich Marisela nach Verübung des Verbrechens mit einem Messer die Adern aufgeschnitten hatte und dann so lange durchs Haus gelaufen war und die Gang- und Zimmerwände mit ihrem Blut bespritzt hatte, bis sie in ihrem Dachgemach tot umgefallen war. Anscheinend war Jausàs Gattin im Moment ihres Todes schwanger gewesen. Marisela, so hieß es, habe auf den nackten Bauch der Señora mit heißem rotem Wachs einen Schädel gezeichnet. Einige Monate später legte die Polizei den Fall zu den Akten. Viele aus der feinen Gesellschaft freuten sich, daß Salvador Jausàs Exzentrizitäten ein Ende genommen hatten. Das war ein Irrtum — sie hatten eben erst begonnen.
In dieser Zeit kam Jausà mit Don Ricardo Aldaya in Kontakt, damals schon ein aufstrebender Industrieller mit dem Ruf eines Frauenhelden und dem Temperament eines Löwen, der sich erbot, ihm seinen Besitz abzukaufen, um ihn niederzureißen und sich das Grundstück vergolden zu lassen. Jausà ließ sich nicht zum Verkauf überreden, lud Ricardo Aldaya aber ein, das Haus zu besichtigen, um ihm etwas zu zeigen, was er als wissenschaftliches und spirituelles Experiment bezeichnete. Seit dem Ende der Untersuchungen hatte kein Besucher mehr einen Fuß über die Schwelle gesetzt. Was Aldaya dort sah, ließ ihm das Blut in den Adern gerinnen.
Noch immer bedeckten die dunklen Flecken von Mariselas Blut die Wände. Anscheinend war Jausà davon überzeugt, daß der Geist der Afrikanerin weiterhin im Haus weilte. Er behauptete, ihre Stimme, ihren Geruch, selbst ihre Berührung in der Dunkelheit wahrzunehmen. Als das Gesinde davon hörte, entfloh es und nahm im benachbarten Ort Sarriá neue Stellen an. Jausà jedoch hatte in New York die Gelegenheit gehabt, einige Ergebnisse der Erfindung des Cinematographen zu sehen, des technischen Kuriosums der Zeit. Wie die verstorbene Marisela glaubte er, die Kamera sauge Seelen ein, diejenige des gefilmten Menschen und diejenige des Betrachters, und bestellte den Erfinder und katalanischen Cinematographenpionier Fructuós Gelabert zu sich. Dieser baute in der Gegend von San Cugat del Vallés einige Filmstudios, in der Gewißheit, im 20. Jahrhundert würden die bewegten Bilder den obrigkeitlich verordneten Glauben ersetzen. Nach dem Weggang seiner Bediensteten war Jausà mit seiner Besessenheit und seinen unsichtbaren Geistern allein geblieben. Bald gelangte er zur Überzeugung, es gelte, diese Unsichtbarkeit zu überwinden, und gab Fructuós Gelabert den Auftrag, in den Gängen der Nebelburg Meter um Meter Film zu drehen, um Zeichen und Visionen aus dem Jenseits einzufangen. Bis dahin waren die Versuche jedoch unfruchtbar geblieben.
Alles änderte sich, als Gelabert verkündete, er habe von Thomas Edisons Fabrik eine neue Art lichtempfindliches Material erhalten, mit dem man selbst unter prekärsten Lichtverhältnissen filmen könne. Mit einer Technik, die nie ganz deutlich wurde, hatte einer der Assistenten von Gelaberts Labor einen billigen Schaumwein in die Entwicklerschale gegeben, und infolge der chemischen Reaktion zeigten sich auf dem belichteten Film merkwürdige Formen. Das war der Film, den Jausà Don Ricardo Aldaya an dem Abend vorführen wollte, an dem er ihn in sein Geisterhaus in der Avenida del Tibidabo 32 einlud.