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»Und essen Sie auch genug?« fragte sie plötzlich beunruhigt.

»Ich schlinge wie ein Holzhacker, Jacinta, aber ich habe eben einen sehr männlichen Stoffwechsel und verbrenne alles.Aber schauen Sie mich an, unter diesen Kleidern ist alles nur Muskel. Fassen Sie an, fassen Sie an. Wie Charles Atlas, nur haariger.« Jacinta nickte, etwas ruhiger. Sie hatte nur Augen für Fermín. Mich hatte sie vollkommen vergessen.

»Was können Sie uns über Penélope und Julián sagen?«

»Alle gemeinsam haben sie sie mir weggenommen«, sagte sie.

»Meine Kleine.« Ich wollte etwas sagen, doch Fermín warf mir einen Blick zu, der mich schweigen hieß.

»Wer hat Ihnen Penélope weggenommen, Jacinta?

Können Sie sich noch erinnern?«

»Der Herr«, antwortete sie und schaute voller Angst empor, als fürchtete sie, jemand könnte uns hören. Fermín folgte ihrem Blick in die Höhe.

»Meinen Sie den allmächtigen Gott, Herrscher der Himmel, oder eher den Herrn Vater von Señorita Penélope, Don Ricardo?«

»Wie geht’s Fernando?« fragte sie.

»Dem Geistlichen? Wie eine Rose. Eines schönen Tages wird er zum Papst gewählt und holt Sie zu sich in die Sixtinische Kapelle. Er läßt Sie vielmals grüßen.«

»Er kommt mich als einziger besuchen, wissen Sie. Er kommt, weil er weiß, daß ich sonst niemand habe.« Fermín warf mir einen verstohlenen Blick zu, als dächte er dasselbe wie ich. Jacinta Coronado war sehr viel vernünftiger, als es den Anschein machte. Der Körper erlosch, aber Geist und Seele verbrannten in diesem Elendsloch nur langsam. Ich fragte mich, wie viele weitere wie sie und das zügellose Alterchen hier noch gefangen waren.

»Er kommt, weil er Sie sehr gern hat, Jacinta. Weil er sich erinnert, wie sehr Sie sich um ihn als Jungen gekümmert und wie gut Sie ihn ernährt haben, er hat uns alles erzählt. Wissen Sie noch, Jacinta? Erinnern Sie sich an damals, als Sie Jorge jeweils von der Schule abgeholt haben, erinnern Sie sich noch an Fernando und Julián?«

»Julián…« Ihre Stimme war ein schleppendes Flüstern, aber das Lächeln verriet sie.

»Erinnern Sie sich an Julián Carax, Jacinta?«

»Ich erinnere mich an den Tag, an dem Penélope zu mir gesagt hat, sie werde ihn heiraten…« Fermín und ich schauten einander verdutzt an.

»Heiraten? Wann war das, Jacinta?«

»An dem Tag, als sie ihn zum ersten Mal sah. Sie war dreizehn und wußte nicht, wer er war noch wie er hieß.«

»Wie konnte sie da wissen, daß sie ihn heiraten würde?«

»Sie hatte ihn gesehen. Im Traum.«

…Als Kind war María Jacinta Coronado überzeugt, jenseits der Stadtgrenzen von Toledo gebe es nur Dunkelheit und Feuermeere. Diese Vorstellung stammte aus einem Traum, den sie während einer Fiebererkrankung hatte, die ihrem Leben mit vier Jahren fast ein Ende bereitet hätte. In ihren späteren Träumen sah Jacinta die Vergangenheit und die Zukunft, und manchmal ahnte sie Geheimnisse und Mysterien der alten Straßen von Toledo. Einer der Dauerbesucher ihrer Träume war Zacharias, ein stets schwarzgekleideter Engel in Begleitung einer dunklen Katze mit gelben Augen und nach Schwefel stinkendem Atem. Zacharias wußte alles und hatte ihr auch die Todesstunde ihres Onkels prophezeit, des Salben- und Weihwasserkrämers Venancio. Er hatte ihr verkündet, in ihrem Bauch sitze etwas Ungutes fest, ein toter Geist, der ihr übelwolle, und sie werde nur eines einzigen Mannes Liebe kennenlernen, eine leere, egoistische Liebe, die ihr das Herz brechen werde. Er hatte ihr vorhergesagt, sie werde zu Lebzeiten alles zugrunde gehen sehen, was ihr lieb und teuer sei, und vor ihrer Ankunft im Himmel die Hölle besuchen. Am Tag ihrer ersten Menstruation verschwanden Zacharias und seine Schwefelkatze aus ihren Träumen, aber Jahre später erinnerte sie sich wieder an die Besuche des schwarzgekleideten Engels, denn all seine Prophezeiungen hatten sich erfüllt.

So war Jacinta nicht überrascht, als ihr die Ärzte sagten, sie werde nie Kinder bekommen, und, obwohl der Schmerz sie beinahe umbrachte, ebensowenig, als ihr Mann nach drei Jahren Ehe verkündete, er verlasse sie wegen einer andern, denn sie sei wie ödes Brachland, das keine Frucht trage. In Abwesenheit von Zacharias, den sie für einen Sendboten des Himmels hielt, sprach sie mit Gott. All ihre Monologe mit ihm kreisten um dasselbe Thema: Sie wünschte sich nur eines, Mutter und Frau zu sein.

Als sie einmal wie so oft in der Kathedrale betete, trat ein Mann zu ihr, in dem sie Zacharias erkannte. Er war angezogen wie immer und hatte seine Katze auf dem Schoß. Er war um keinen Tag gealtert und hatte noch immer diese prächtigen Herzoginnenfingernägel, lang und spitz. Er gestand ihr, er sei gekommen, weil Gott auf ihre Bittgebete nicht zu antworten gedenke. Sie solle sich aber nicht grämen, er werde ihr dennoch ein Kind schicken. Er beugte sich über sie, raunte ihr das Wort Tibidabo ins Ohr und küßte sie zärtlich auf die Lippen. Bei der Berührung mit diesen weichen Lippen hatte Jacinta eine Vision: Sie würde ein Kind haben, ein Mädchen, ohne einen Mann dafür zu brauchen. Dieses Mädchen würde in einer weit entfernten Stadt zu ihr kommen, die zwischen einem Mond aus Bergen und einem Meer aus Licht gefangen war, eine Stadt aus Häusern, welche nur im Traum existieren können. Sie zweifelte keinen Augenblick an der Wahrhaftigkeit der Prophezeiungen. Noch am selben Abend besprach sie sich mit dem Diakon der Kirchgemeinde, einem belesenen, weitgereisten Mann, der zu ihr sagte:

»Jacinta, was du da gesehen hast, ist Barcelona, die große Zauberin, und die Sagrada-FamiliaKirche…« Zwei Wochen später machte sich Jacinta mit einem Bündel Wäsche, einem Meßbuch und ihrem ersten Lächeln in fünf Jahren auf den Weg nach Barcelona, in der festen Überzeugung, alles, was ihr der Engel Zacharias beschrieben habe, werde sich verwirklichen.

Sie durchlebte schwierige Monate, ehe sie in einem der Lager von Aldaya und Söhne, neben den Pavillons der ehemaligen Weltausstellung im Zitadellenpark, eine feste Anstellung fand. Das Barcelona ihrer Träume war zu einer feindlichen, finsteren Stadt mit geschlossenen Palästen und Fabriken geworden, aus denen giftiger Dunst drang. Sie lebte allein in einer Pension des Ribera-Viertels, wo ihr Lohn knapp für ein elendes, fensterloses Zimmer reichte, dessen Beleuchtung nur aus den Kerzen bestand, die sie in der Kathedrale entwendete und die ganze Nacht brennen ließ, um die Ratten fernzuhalten, welche Ohren und Finger des halbjährigen Babys der Ramoneta gefressen hatten, einer Prostituierten, die das angrenzende Zimmer gemietet hatte und nach elf Monaten Barcelona ihre einzige Freundin war.

Entschlossen zu überleben, ging sie täglich vor dem Morgengrauen ins Lager und verließ es erst wieder, wenn es längst dunkel war. Dort entdeckte zufällig Don Ricardo Aldaya sie, als sie sich um die Tochter eines der Vorarbeiter kümmerte, der vor Erschöpfung krank geworden war. Er sah, wieviel Eifer und Zärtlichkeit das Mädchen verströmte, und beschloß, sie zu sich nach Hause zu nehmen, damit sie seiner Frau beistünde, die mit seinem Erstgeborenen schwanger war. Ihre Gebete waren erhört worden. In dieser Nacht sah Jacinta Zacharias erneut im Traum. Er war nicht mehr schwarz gekleidet, sondern nackt, und seine Haut war schuppenbedeckt. Auch begleitete ihn nicht mehr seine Katze, sondern eine weiße, um den Oberkörper gerollte Schlange. Sein Haar war ihm auf die Taille hinuntergewachsen, und sein Lächeln war jetzt von dreieckigen, gezackten Zähnen geprägt, wie sie sie bei einigen Meerfischen gesehen hatte. In der Nacht, bevor sie aus der Pension im Ribera-Viertel auszog, um ins Aldaya-Haus überzusiedeln und dort ihre neue Stelle anzutreten, war ihre Freundin Ramoneta im Hauseingang erdolcht worden und ihr Baby in den Armen der Leiche erfroren.

Vier Monate später wurde Jorge Aldaya geboren, und obwohl sie ihm die ganze Liebe darbrachte, die ihm die Mutter nie geben konnte oder wollte, begriff die Kinderfrau, daß das nicht das von Zacharias versprochene Kind war. In diesen Jahren verlor sie ihre Jugend und wurde eine andere Frau, die einzig den Namen und das Gesicht von einst bewahrte. Die alte Jacinta hatte sie in der Pension des Ribera-Viertels zurückgelassen. Jetzt lebte sie im Schatten des Aldayaschen Luxus, fern der düsteren Stadt, die sie mittlerweile regelrecht haßte und in die sie sich nicht einmal mehr an ihrem einzigen freien Tag im Monat hinuntertraute. Sie lebte weiter in der Erwartung des Kindes, das ein Mädchen werden sollte und dem sie die ganze Liebe schenken wollte, mit der Gott ihr Herz gefüllt hatte.