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Penélope Aldaya wurde im Frühling 1902 geboren. Damals hatte Don Ricardo Aldaya bereits das Haus in der Avenida del Tibidabo gekauft, diesen Kasten, von dem ihre Kollegen im Gesinde überzeugt waren, daß es dem Einfluß eines mächtigen Zauberers unterworfen war. Jacinta jedoch hatte keine Angst vor dem Haus, denn sie wußte, daß das, was andere für Verzauberung hielten, nichts weiter als eine Anwesenheit war, die nur sie im Traum sehen konnte: der Schatten von Zacharias, der kaum noch dem Mann glich, an den sie sich erinnerte und der ihr jetzt nur noch als aufrecht gehender Wolf erschien.

Penélope war ein anfälliges, blasses, federleichtes Mädchen. Jacinta sah sie wachsen wie eine Blume mitten im Winter. Jahrelang wachte sie Nacht für Nacht bei ihr, bereitete persönlich jede einzelne Mahlzeit für sie zu, nähte ihre Kleider, war an ihrer Seite, als sie tausendundeine Krankheiten hatte, als sie ihre ersten Worte sagte, als sie zur Frau wurde. Señora Aldaya war eine von vielen Gestalten des Bühnenbildes, eine Figur, die nach den Erfordernissen der Etikette auf- und abtrat. Vor dem Schlafengehen suchte sie ihre Tochter auf, um ihr eine gute Nacht zu wünschen und zu beteuern, sie liebe sie mehr als alles andere auf der Welt. Jacinta dagegen sagte Penélope nie, daß sie sie liebte. Sie wußte, daß, wer wirklich liebt, schweigend liebt, mit Taten und nie mit Worten. Insgeheim verachtete sie Señora Aldaya, dieses eitle, hohle Geschöpf, das in den Gängen des Hauses unter dem Gewicht der Juwelen, mit denen ihr Mann sie beschwichtigte, der seit Jahren in fremden Häfen anlegte, alt und älter wurde. Sie haßte sie, weil Gott von allen Frauen gerade sie erwählt hatte, um Penélope zu gebären, während ihr eigener Bauch, der Bauch der wahren Mutter, ödes Brachland blieb. Als wären die Worte ihres Mannes prophetisch gewesen, büßte sie mit der Zeit sogar ihre weiblichen Formen ein. Sie hatte an Gewicht verloren, und ihr Gesicht zeigte den barschen Ausdruck, den müde Haut und Knochen verleihen. Ihre Brüste waren bis auf ein Restchen Haut geschrumpft, die Hüften jungenhaft, und ihr dürres, kantiges Fleisch ließ sogar die Augen Don Ricardo Aldayas gleichgültig, der bloß einen Ansatz von Üppigkeit zu ahnen brauchte, um mit voller Kraft anzugreifen, wie alle Kammermädchen des Hauses und diejenigen befreundeter Häuser genau wußten. Besser so, sagte sich Jacinta. Sie hatte keine Zeit für Torheiten.

Ihre ganze Zeit galt Penélope. Sie las ihr vor, begleitete sie überallhin, badete sie, zog sie an und aus, kämmte sie, ging mit ihr spazieren, brachte sie zu Bett und weckte sie. Vor allem aber sprach sie mit ihr. Alle hielten sie für eine verrückte Kinderfrau, eine alte Jungfer ohne weiteres Leben als das ihrer Arbeit im Haus, aber niemand kannte die Wahrheit: Jacinta war nicht nur Penélopes Mutter, sie war auch ihre beste Freundin. Seit das Mädchen zu sprechen und Gedanken zu artikulieren begonnen hatte — sehr viel eher, als Jacinta es von irgendeinem andern Kind her in Erinnerung hatte —, teilten die beiden ihre Geheimnisse, ihre Träume, ihr Leben.

Mit der Zeit wurde die Verbindung immer fester. Als Penélope ins Jugendalter kam, waren sie schon unzertrennliche Freundinnen. Jacinta sah Penélope zu einer Frau erblühen, deren Schönheit und Leuchten nicht nur in ihren verliebten Augen offenkundig war. Penélope war Licht. Als der rätselhafte Junge namens Julián ins Haus kam, bemerkte Jacinta vom ersten Augenblick an, daß zwischen ihm und Penélope ein Strom floß. Etwas Ähnliches band sie aneinander wie sie und Penélope — und gleichzeitig etwas anderes, Intensiveres, Gefährliches. Anfänglich dachte sie, sie würde Julián Carax sicherlich hassen, doch bald stellte sie fest, daß sie ihn weder haßte noch je würde hassen können. Je stärker Penélope in Juliáns Bann geriet, desto mehr ließ auch sie sich mitreißen, und mit der Zeit wünschte sie nur noch, was auch Penélope sich wünschte. Niemand hatte es bemerkt, aber wie immer war das Maßgebliche bereits entschieden, bevor die Geschichte auch nur begonnen hatte, und da war es schon zu spät.

Es mußten noch Monate der Blicke und des vergeblichen Sehnens vergehen, ehe Julián Carax und Penélope miteinander allein sein konnten. Sie lebten vom Zufall, begegneten sich auf den Korridoren, beobachteten sich von den entgegengesetzten Tischenden aus, streiften sich schweigend, spürten sich in der Abwesenheit. Ihre ersten Worte wechselten sie in der Bibliothek des Hauses in der Avenida del Tibidabo an einem Gewitterabend, als die Villa Penélope sich mit Kerzenglanz füllte, ein paar wenige dem Halbdunkel abgerungene Sekunden, in denen Julián in den Augen des jungen Mädchens die Gewißheit zu lesen glaubte, daß beide dasselbe empfanden, daß dasselbe Geheimnis sie verzehrte. Niemand schien es zu beachten. Niemand außer Jacinta, die mit wachsender Unruhe das Blickspiel gedeihen sah, das Penélope und Julián im Schatten der Aldayas spielten. Sie fürchtete um sie.

Damals hatte Julián schon begonnen, die Nächte wachend zu verbringen und von Mitternacht bis zum frühen Morgen Erzählungen zu schreiben. Danach suchte er unter irgendeinem Vorwand das Haus in der Avenida del Tibidabo auf und wartete auf den geeigneten Moment, um sich heimlich in Jacintas Zimmer zu schleichen und ihr die Blätter zu überreichen, damit sie sie dem Mädchen gäbe. Manchmal hatte Jacinta eine Mitteilung von Penélope für ihn, und er las sie Tag um Tag immer wieder. Dieses Spiel dauerte Monate. Julián unternahm alles Menschenmögliche, damit er in Penélopes Nähe sein konnte. Jacinta half ihm dabei, um Penélope glücklich zu sehen, um dieses Licht am Leuchten zu erhalten. Julián anderseits spürte, daß die Unschuld des Zufalls aus der Anfangszeit verflog und er Boden preisgeben mußte. So begann er Don Ricardo Aldaya über seine Pläne zu belügen, einen pappenen Enthusiasmus für eine Zukunft im Bank- und Finanzwesen vorzugaukeln, eine Zuneigung und Anhänglichkeit für Jorge Aldaya zu spielen, die er nicht empfand, nur um seine fast dauernde Anwesenheit im Haus in der Avenida del Tibidabo zu rechtfertigen. Er sagte nur noch das, von dem er wußte, daß die andern es von ihm hören wollten, las ihre Blicke und Wünsche, opferte die Aufrichtigkeit der Fahrlässigkeit, spürte, daß er stückweise seine Seele verkaufte, und fürchtete, daß, wenn er eines Tages tatsächlich um Penélopes Hand anhalten sollte, nichts mehr von dem Julián übrig wäre, der sie zum ersten Mal gesehen hatte. Manchmal erwachte er am Morgen und glühte vor Wut, begierig, der Welt seine wahren Gefühle zu offenbaren, vor Don Ricardo Aldaya hinzutreten und ihm zu sagen, er sei nicht im geringsten an seinem Geld, seinen Zukunftsarrangements und seiner Gesellschaft interessiert, er wünsche sich nur seine Tochter Penélope, um sie so weit wie möglich von dieser leeren Totenwelt, in der er sie gefangenhalte, wegzubringen. Mit dem Tageslicht schwand sein Mut.

Gelegentlich sprach sich Julián bei Jacinta aus, die den Jungen allmählich lieber hatte, als ihr recht war. Oft trennte sie sich für kurze Zeit von Penélope und suchte unter dem Vorwand, Jorge von der San-Gabriel-Schule abzuholen, Julián auf, um ihm Botschaften von Penélope zu überbringen. So lernte sie Fernando Ramos kennen, der ihr Jahre später als einziger Freund noch bleiben sollte, als sie in der vom Engel Zacharias prophezeiten Santa-LucíaHölle auf den Tod wartete. Manchmal nahm sie Penélope mit und verschaffte so den beiden jungen Menschen eine kurze Begegnung; dabei sah sie zwischen ihnen eine Liebe wachsen, die ihr selbst versagt geblieben war.