Dann ging ich zur nächsten Kerze und zündete sie an. Langsam, wie in einem Ritual folgte Kerze um Kerze, so daß ein bernsteinfarbener Lichtschein in der Dunkelheit schwebte. Mein Weg endete neben dem Kamin der Bibliothek bei den Decken, die aschenbefleckt noch auf dem Boden lagen. Dort setzte ich mich hin, den großen Raum im Auge. Ich hatte Stille erwartet, doch das Haus offenbarte unzählige Geräusche. Knackendes Holz, der Wind in den Dachziegeln, tausendfaches Wispern zwischen den Mauern, unter dem Fußboden, sich hinter den Wänden bewegend.
Nach einer knappen halben Stunde merkte ich, daß mich das Halbdunkel einzuschläfern drohte. Ich stand auf und begann im Raum auf und ab zu gehen, damit mir warm würde. Im Kamin lagen nur noch die Reste eines Scheits, und ich machte mich auf die Suche nach etwas Brennbarem, um den Raum mit den beiden Decken wohnlicher zu gestalten, die jetzt vor dem Kamin zitterten, als hätten sie nichts mit den warmen Erinnerungen zu tun, die ich von ihnen bewahrte.
Meine Vorstellungen von viktorianischer Literatur legten mir nahe, die Suche vernünftigerweise im Keller zu beginnen, wo einmal die Küchen und ein großer Kohlenkeller gelegen haben mußten. Mit dieser Idee suchte ich etwa fünf Minuten nach einer in die Tiefe führenden Tür oder Treppe. Ich wählte eine große Holztür am Ende eines Korridors. Sie sah aus wie ein erlesenes Stück Tischlerarbeit mit Engelreliefs und einem großen Kreuz in der Mitte. Das Schloß befand sich genau unter diesem Kreuz. Erfolglos versuchte ich die Tür zu öffnen. Wahrscheinlich klemmte der Mechanismus oder war schlicht verrostet. Die einzige Lösung hätte darin bestanden, sie mit einem Hebel aufzubrechen oder mit der Axt einzuschlagen, was ich beides rasch verwarf. Ich untersuchte sie im Kerzenlicht und dachte, sie erinnere eher an einen Sarg als an eine Tür. Ich fragte mich, was sich auf der andern Seite verbergen mochte.
Schon wollte ich meine Suche nach einem Zugang zum Keller aufgeben, als ich am andern Ende des Gangs mehr oder weniger zufällig auf eine kleine Tür stieß, die ich zunächst für die einer Besenkammer hielt. Ich drehte versuchsweise am Griff, und er gab sogleich nach. Auf der andern Seite konnte man eine Treppe erahnen, die beinahe senkrecht in ein dunkles Loch hinabführte. Ein intensiver Geruch nach modriger Erde schlug mir entgegen. Als ich so in die Schwärze vor mir hinunterblickte, kam mir angesichts dieses seltsam vertrauten Geruchs schlagartig ein Bild in den Sinn, das ich seit meiner Kindheit halb unter der Angst begraben mit mir herumtrug.
Ein Regennachmittag am Osthang des Montjuïc-Friedhofs, der Blick aufs Meer zwischen einem Wald unglaublicher Mausoleen hindurch, einem Wald von Kreuzen und gemeißelten Grabtafeln mit Gesichtern von Schädeln und Kindern ohne Lippen und Blick, ein Gestank nach Tod, die Gestalten von etwa zwanzig Erwachsenen, an die ich mich nur als schwarze, regennasse Anzüge erinnern kann, und die Hand meines Vaters, die meine zu fest drückt, als wollte er so seine Tränen ersticken, während die leeren Worte eines Priesters in dieses Marmorgrab fallen, in das drei gesichtslose Totengräber einen grauen Sarg hinunterstoßen, von dem der Platzregen wie geschmolzenes Wachs abfließt und in welchem ich die Stimme meiner Mutter zu hören meine, die mich ruft, die mich anfleht, sie aus diesem steinernen Gefängnis zu befreien, während ich nur zittern kann und meinem Vater mit schwacher Stimme zuflüstere, er solle meine Hand nicht so drücken, er tue mir weh, und dieser Geruch nach frischer Erde, Aschen- und Regenerde, verschluckt alles, Geruch nach Tod und Leere.
Ich öffnete die Augen wieder und stieg sozusagen im Dunkeln die Stufen hinunter, denn das Kerzenlicht vermochte der Schwärze nur wenige Zentimeter abzutrotzen. Unten angekommen, hielt ich die Kerze in die Höhe und schaute mich um. Ich entdeckte weder eine Küche noch eine Kammer mit trockenem Brennholz. Vor mir tat sich ein schmaler Gang auf, der in einen halbkreisförmigen Raum mündete, in dem eine Gestalt aufragte. Ihr Gesicht war von blutigen Tränen überströmt, die beiden schwarzen Augen waren leere Höhlen, die Arme wie Flügel ausgebreitet, und aus den Schläfen wuchs ihr eine Dornenschlange. Eine eisige Welle packte mich im Nacken. Plötzlich faßte ich mich wieder und begriff, daß ich eine holzgeschnitzte Christusfigur an der Wand einer Kapelle betrachtete. Ich tat einige weitere Schritte und sah ein gespenstisches Bild. In einer Ecke der ehemaligen Kapelle stapelten sich mitsamt ihren Ständern ein Dutzend nackte weibliche Oberkörper ohne Arme und Kopf. Jeder von ihnen hatte eindeutig andere Formen, und unschwer erkannte man die Umrisse von Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Konstitution. Auf dem Bauch standen in Kohleschrift einzelne Namen: lsabel; Eugenia; Penélope. Diesmal halfen mir die viktorianischen Bücher, die ich gelesen hatte: Es handelte sich um ein Echo aus Zeiten, in denen die einzelnen Mitglieder reicher Familien über maßgeschneiderte Puppen zur Anfertigung von Kleidern und Aussteuern verfügten. Trotz des strengen, ja drohenden Blicks des Gekreuzigten konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, die Hand auszustrecken und die Puppe mit dem Namen Penélope Aldaya zu berühren.
Da glaubte ich im oberen Stock Schritte zu hören. Ich dachte, Bea sei gekommen und suche mich im ganzen Haus. Erleichtert verließ ich die Kapelle und ging wieder auf die Treppe zu. Ich wollte eben hinaufsteigen, als ich am andern Ende des Gangs einen Kessel und eine Heizanlage in einem offensichtlich guten Zustand erkannte, der nicht zum Rest des Kellers passen wollte. Ich erinnerte mich an Beas Worte, wonach die Immobiliengesellschaft, die jahrelang das Aldaya-Haus zu verkaufen versuchte, einige Ausbesserungsarbeiten durchgeführt hatte, um potentielle Käufer anzulocken, allerdings ohne Erfolg. Ich trat näher, um die Vorrichtung eingehender zu untersuchen, und stellte fest, daß es ein von einem kleinen Kessel gespeistes Radiatorsystem war. Zu meinen Füßen sah ich mehrere Eimer mit Kohle, Preßholz und einige Blechkanister, in denen ich Kerosin vermutete. Ich öffnete das Türchen des Kessels und schaute hinein. Alles schien in Ordnung. Diesen Apparat nach so vielen Jahren wieder zum Funktionieren zu bringen kam mir als hoffnungsloses Unterfangen vor, was mich aber nicht daran hinderte, den Kessel mit Kohlen- und Holzstücken zu füllen und das Ganze ordentlich mit Kerosin zu besprengen. Dabei glaubte ich ein Knarren von altem Holz zu hören und wandte mich kurz um. Wieder sprangen mir die blutigen, aus dem Kreuz ragenden Dornen ins Auge, und vor diesem Halbdunkel fürchtete ich, wenige Schritte entfernt die Gestalt Christi auftauchen und mit wölfischem Grinsen auf mich zukommen zu sehen.
Als ich die Kerze in den Kessel hielt, loderte er mit metallischem Getöse auf. Ich schloß das Türchen und trat einige Schritte zurück. Der Kessel schien nur schwer zu ziehen, und ich beschloß, wieder hinaufzugehen, um zu sehen, ob es warm wurde. Als ich in den großen Salon zurückkam, erwartete ich Bea zu sehen, fand aber keine Spur von ihr. Ich vermutete, seit meinem Eintreffen sei schon fast eine Stunde vergangen, und meine Befürchtungen, sie werde nie erscheinen, verstärkten sich. Um die Unruhe zu bekämpfen, machte ich mich auf die Suche nach Heizkörpern, die mir zeigen sollten, ob meine Heizbemühungen erfolgreich waren. Alle Radiatoren, die ich fand, waren kalt wie Eiszapfen. Alle außer einem. In einem kleinen Raum von höchstens vier oder fünf Quadratmetern, einem vermutlich genau über dem Kessel gelegenen Badezimmer, war ein wenig geheizt. Ich kniete nieder und stellte freudig fest, daß die Bodenfliesen lauwarm waren. So fand mich Bea, auf dem Boden hockend, wie ein Dummkopf die Fliesen eines Badezimmers abtastend.
Ich brauchte nur zwei Minuten, um sie zu überzeugen, daß wir die Decken aus dem Salon holen und uns mit nichts als zwei Kerzen und einigen museumsreifen Wandleuchten in diesem winzigen Raum einschließen sollten. Mein Hauptargument, die Kälte, beeindruckte sie schnell, und angesichts der warmen Fliesen vergaß sie ihre Angst, meine verrückte Erfindung könnte das Haus in Brand stecken. Während ich sie im Kerzenlicht mit zitternden Fingern auszog, suchte sie lächelnd meine Augen und zeigte mir, daß ihr alles, was immer mir einfiel, schon vorher eingefallen war.