»Ist dein Vater nicht da, Daniel?«
»Tut mir leid, Don Gustavo. Er ist zu einem Kunden gegangen und kommt wahrscheinlich erst…«
»Sehr gut. Ich will nämlich nicht zu ihm, und es ist besser, er hört nicht, was ich dir zu sagen habe.« Er blinzelte mir zu, während er aus den Handschuhen schlüpfte und verdrießlich den Laden betrachtete.
»Und unser Kollege Fermín? Ist er auch irgendwo?«
»Im Gefecht verschwunden.«
»Vermutlich bei der Anwendung seiner Talente auf die Lösung des Falles Carax.«
»Mit Leib und Seele. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, trug er eine Soutane und erteilte den Segen urbi et orbi.«
»Hm… Es ist meine Schuld, weil ich euch aufgehetzt habe. Hätte ich doch den Schnabel gehalten.«
»Ich sehe, Sie sind etwas unruhig. Ist etwas geschehen?«
»Nicht direkt. Oder doch, in gewisser Hinsicht schon.«
»Was wollten Sie mir erzählen, Don Gustavo?« Er lächelte mir sanft zu. Sein üblicher hochmütiger Ausdruck und seine Salonarroganz waren einem gewissen Ernst, einem Anflug von Vorsicht und nicht geringer Besorgnis gewichen.
»Heute morgen habe ich Don Manuel Gutiérrez Fonseca kennengelernt, 59, Junggeselle und seit 1924 Angestellter des städtischen Leichenschauhauses. Dreißig Jahre Dienst auf der Schwelle zur Finsternis — das stammt von ihm, nicht von mir. Don Manuel ist ein Herr alter Schule, höflich, nett und entgegenkommend. Er wohnt seit fünfzehn Jahren zur Untermiete in einem Zimmer in der Calle de la Ceniza, das er mit zwölf Wellensittichen teilt, die den Trauermarsch zu trällern gelernt haben. Er hat ein Abonnement für den Olymp des Liceo-Theaters und mag Verdi und Donizetti. Er hat mir gesagt, das Entscheidende an seiner Arbeit sei es, das Reglement zu befolgen. Im Reglement ist alles vorgesehen, insbesondere bei Situationen, in denen man nicht mehr weiterweiß. Ein Beispieclass="underline" Vor fünfzehn Jahren hat Don Manuel einmal einen von der Polizei gebrachten Leinensack geöffnet und sich dem besten Freund seiner Kindheit gegenübergesehen. Der Rest der Leiche kam in einem separaten Sack. Don Manuel hat sich über die Erschütterung hinweggesetzt und das Reglement befolgt.«
»Möchten Sie einen Kaffee, Don Gustavo? Sie werden ja ganz gelb.«
»Ich bitte darum.« Ich holte die Thermoskanne und schenkte ihm eine Tasse mit sieben Stück Zucker ein. Er trank sie in einem Zug aus.
»Besser?«
»Es geht gleich wieder. Also, Don Manuel hatte Dienst an dem Tag, an dem Julián Carax’ Leichnam in die Nekropsie kam, im September 1936. Natürlich erinnerte sich Don Manuel nicht mehr an den Namen, aber ein Nachsuchen in den Archiven und eine Spende von zwanzig Duros für seinen Ruhestandfonds haben sein Gedächtnis bemerkenswert aufgefrischt. Kannst du mir folgen?« Ich nickte, fast in Trance.
»Don Manuel erinnert sich an die Einzelheiten jenes Tages, weil das, wie er mir erzählte, eines der wenigen Male war, wo er sich über das Reglement hinweggesetzt hat. Laut Polizei war der Tote in einer Gasse des Raval gefunden worden, kurz vor Tagesanbruch. Gegen zehn Uhr vormittags gelangte er ins Leichenhaus. Er hatte nur ein Buch und einen Paß bei sich, der ihn als Julián Fortuny Carax auswies, gebürtig aus Barcelona, geboren im Jahr 1900. Der Paß wies einen Stempel des Grenzübergangs La Junquera auf, woraus hervorging, daß Carax das Land einen Monat zuvor betreten hatte. Offensichtlich war die Todesursache eine Schußwunde. Don Manuel ist zwar nicht Arzt, aber mit der Zeit hat er das Repertoire kennengelernt. Seiner Meinung nach war der Schuß — direkt über dem Herzen — aus nächster Nähe abgegeben worden. Dank des Passes konnte man Señor Fortuny, Carax’ Vater, ausfindig machen, der noch am selben Abend ins Leichenhaus kam, wo er den Toten identifizieren sollte.«
»Bis dahin paßt alles zu dem, was Nuria Monfort erzählt hat.« Barceló nickte.
»So ist es. Was dir Nuria Monfort nicht gesagt hat, ist, daß er, mein Freund Don Manuel, als er argwöhnte, die Polizei sei nicht allzusehr an dem Fall interessiert, und nachdem er festgestellt hatte, daß das Buch, das man in den Taschen des Toten gefunden hatte, dessen Namen trug — daß also Don Manuel die Initiative zu ergreifen beschloß und noch am selben Nachmittag, während er auf Señor Fortuny wartete, den Verlag anrief, um über den Vorfall Bericht zu erstatten.«
»Nuria Monfort hat mir gesagt, der Angestellte des Leichenschauhauses habe drei Tage später angerufen, nachdem die Leiche schon in einem Massengrab beigesetzt worden war.«
»Laut Don Manuel hat er am selben Tag angerufen, an dem der Tote eingeliefert wurde. Er hat gesagt, er habe mit einer Señorita gesprochen, die sich für seinen Anruf bedankte. Er erinnert sich, daß ihn ihr Verhalten schockiert hat. Nach seinen Worten ›war es, als wüßte sie es bereits‹.«
»Und was ist mit Señor Fortuny? Stimmt es, daß er sich geweigert hat, seinen Sohn zu identifizieren?«
»Darauf war ich am allermeisten gespannt. Don Manuel erklärt, bei Einbruch der Dunkelheit sei in Begleitung von zwei Polizisten ein zittriges Männchen gekommen. Es war Señor Fortuny. Das sei, wie er sagt, das einzige, woran man sich nie gewöhnen könne — der Moment, in dem die Angehörigen kommen, um die Leiche eines geliebten Menschen zu identifizieren. Das sei eine heikle Situation, die er niemandem wünsche. Am schlimmsten sei es, wenn der Tote ein junger Mensch sei, der von den Eltern oder einer frisch angetrauten Person identifiziert werden müsse. Don Manuel erinnert sich noch genau an Señor Fortuny. Er sagt, als er ins Leichenhaus gekommen sei, habe er sich kaum auf den Beinen halten können, er habe geweint wie ein Kind und die beiden Polizisten hätten ihn an den Armen führen müssen. Er habe nicht aufgehört zu wimmern: ›Was hat man mit meinem Sohn gemacht? Was hat man mit meinem Sohn gemacht?‹«
»Hat er die Leiche denn überhaupt gesehen?«
»Don Manuel hat mir erzählt, er sei drauf und dran gewesen, den Polizisten nahezulegen, auf die Formalität zu verzichten. Das sei das einzige Mal gewesen, daß es ihm in den Sinn gekommen sei, das Reglement in Frage zu stellen. Die Leiche war in üblem Zustand. Wahrscheinlich war der Mann schon seit über vierundzwanzig Stunden tot, als er ins Leichenhaus kam, nicht erst seit dem frühen Morgen, wie die Polizei angab. Don Manuel fürchtete, wenn dieses alte Männchen ihn sähe, würde er zerbrechen. Señor Fortuny hörte nicht auf zu sagen, es könne nicht sein, sein Julián könne nicht tot sein… Da schlug Don Manuel das Leichentuch zurück, und die beiden Polizisten fragten formell, ob das sein Sohn Julián sei.«
»Und?«
»Señor Fortuny blieb stumm und betrachtete die Leiche fast eine Minute lang. Dann machte er kehrt und ging.«
»Er ging?«
»In aller Eile.«
»Und die Polizei? Hat sie ihn nicht daran gehindert? Waren sie nicht da, um die Leiche zu identifizieren?« Barceló lächelte böse.
»Theoretisch schon. Aber Don Manuel erinnert sich, daß noch jemand anders im Raum war, ein dritter Polizist, der leise hereingekommen war, als die andern Señor Fortuny vorbereiteten, und der die Szene schweigend verfolgt hatte, an die Wand gelehnt und eine Zigarette im Mund. Don Manuel erinnert sich an ihn, weil ihn, als er sagte, das Reglement verbiete das Rauchen im Leichenschauhaus ausdrücklich, einer der Polizisten zum Schweigen brachte. Kaum war Señor Fortuny gegangen, sei der dritte Polizist hinzugetreten, habe einen Blick auf die Leiche geworfen und ihr ins Gesicht gespuckt. Dann habe er den Paß an sich genommen und angeordnet, die Leiche nach Can Tunis zu bringen und dort am frühen Morgen in einem Massengrab zu beerdigen.«
»Das ergibt keinen Sinn.«
»Das dachte Don Manuel auch. Vor allem, weil das nicht mit dem Reglement zu vereinbaren war. ›Aber wir wissen doch gar nicht, wer dieser Mann ist‹, sagte er. Die beiden Polizisten zuckten mit den Schultern. Wütend wies Don Manuel sie zurecht: ›Oder wissen Sie es nur allzu gut? Niemand kann ja übersehen, daß er schon mindestens einen Tag tot ist.‹ Don Manuel berief sich aufs Reglement — für dumm wollte er sich nicht verkaufen lassen. Als er seinen Protest gehört habe, sei der dritte Polizist zu ihm getreten, habe ihm fest in die Augen geschaut und ihn gefragt, ob er etwa dem Verstorbenen auf seiner letzten Reise Gesellschaft leisten wolle. Don Manuel hat mir erzählt, er sei sehr erschrocken. Dieser Mann habe die Augen eines Verrückten gehabt und er habe keinen Moment daran gezweifelt, daß er es ernst meine. Er habe geflüstert, er versuche doch nur, das Reglement zu erfüllen, niemand wisse, wer dieser Mann sei und darum könne man ihn noch nicht beerdigen. ›Dieser Mann ist der, von dem ich sage, er ist es‹, erwiderte der dritte Polizist. Dann nahm er das Registerblatt, unterschrieb es und erklärte den Fall für abgeschlossen. Don Manuel sagt, diese Unterschrift werde er nie vergessen — in den Kriegsjahren und noch lange Zeit später habe er sie auf Dutzenden von Registerblättern und Totenscheinen von Leichen wiedergefunden, die weiß Gott woher kamen und die niemand identifizieren konnte…«
»Inspektor Francisco Javier Fumero…«
»Stolz und Bollwerk der Polizeidirektion. Weißt du, was das bedeutet, Daniel?«
»Daß wir bisher ziemlich blauäugig waren.« Barceló nahm Hut und Stock und wandte sich zur Tür. Dabei verneinte er leise.
»Nein, daß wir unser blaues Wunder erst noch erleben werden.«