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»Das dachte Don Manuel auch. Vor allem, weil das nicht mit dem Reglement zu vereinbaren war. ›Aber wir wissen doch gar nicht, wer dieser Mann ist‹, sagte er. Die beiden Polizisten zuckten mit den Schultern. Wütend wies Don Manuel sie zurecht: ›Oder wissen Sie es nur allzu gut? Niemand kann ja übersehen, daß er schon mindestens einen Tag tot ist.‹ Don Manuel berief sich aufs Reglement — für dumm wollte er sich nicht verkaufen lassen. Als er seinen Protest gehört habe, sei der dritte Polizist zu ihm getreten, habe ihm fest in die Augen geschaut und ihn gefragt, ob er etwa dem Verstorbenen auf seiner letzten Reise Gesellschaft leisten wolle. Don Manuel hat mir erzählt, er sei sehr erschrocken. Dieser Mann habe die Augen eines Verrückten gehabt und er habe keinen Moment daran gezweifelt, daß er es ernst meine. Er habe geflüstert, er versuche doch nur, das Reglement zu erfüllen, niemand wisse, wer dieser Mann sei und darum könne man ihn noch nicht beerdigen. ›Dieser Mann ist der, von dem ich sage, er ist es‹, erwiderte der dritte Polizist. Dann nahm er das Registerblatt, unterschrieb es und erklärte den Fall für abgeschlossen. Don Manuel sagt, diese Unterschrift werde er nie vergessen — in den Kriegsjahren und noch lange Zeit später habe er sie auf Dutzenden von Registerblättern und Totenscheinen von Leichen wiedergefunden, die weiß Gott woher kamen und die niemand identifizieren konnte…«

»Inspektor Francisco Javier Fumero…«

»Stolz und Bollwerk der Polizeidirektion. Weißt du, was das bedeutet, Daniel?«

»Daß wir bisher ziemlich blauäugig waren.« Barceló nahm Hut und Stock und wandte sich zur Tür. Dabei verneinte er leise.

»Nein, daß wir unser blaues Wunder erst noch erleben werden.«

26

Den ganzen Nachmittag starrte ich den unheilbringenden Brief an, der mir meine Einberufung verkündete, und wartete auf ein Lebenszeichen von Fermín. Es war bereits eine halbe Stunde nach Ladenschluß, und ich hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Da rief ich in der Pension in der Calle Joaquín Costa an, wo mir Doña Encarna mit Anislikörstimme sagte, sie habe Fermín seit dem Morgen nicht mehr gesehen.

»Wenn er in einer halben Stunde nicht da ist, wird er kalt zu Abend essen, wir sind hier nicht im Ritz. Es ist ihm doch nichts zugestoßen, oder?«

»Seien Sie unbesorgt, Doña Encarna. Er hatte noch eine Besorgung zu erledigen und wird sich verspätet haben. Aber falls Sie ihn vor dem Zubettgehen sehen, wäre ich Ihnen auf jeden Fall sehr dankbar, wenn Sie ihm sagen könnten, er soll mich anrufen. Daniel Sempere, Nachbar Ihrer Freundin Merceditas.«

»Keine Angst, aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich um halb neun in die Klappe gehe.« Danach rief ich bei Barceló an in der Hoffnung, vielleicht sei Fermín dort aufgekreuzt, um der Bernarda die Speisekammer zu leeren oder sie im Bügelzimmer zu kosen. Ich war nicht auf den Gedanken gekommen, Clara könnte antworten.

»Daniel — das ist aber eine Überraschung.« Finde ich auch, dachte ich. Weitschweifig ließ ich den Grund meines Anrufs zu unbedeutender Beiläufigkeit schrumpfen.

»Nein, Fermín ist heute nicht vorbeigekommen. Und die Bernarda war den ganzen Nachmittag mit mir zusammen, ich müßte es also wissen. Wir haben von dir gesprochen, weißt du.«

»Was für ein langweiliges Gesprächsthema.«

»Die Bernarda sagt, du siehst sehr gut aus, ein richtiger Mann.«

»Ich nehme viel Vitamine.« Langes Schweigen.

»Daniel, glaubst du, wir können eines Tages wieder Freunde sein? Wie viele Jahre wird es brauchen, bist du mir verzeihst?«

»Wir sind schon Freunde, Clara, und ich habe dir nichts zu verzeihen. Das weißt du.«

»Mein Onkel sagt, du forschst immer noch Julián Carax nach. Vielleicht kommst du eines Tages zum Nachmittagskaffee und erzählst mir Neuigkeiten. Auch ich habe dir einiges zu erzählen.«

»In den nächsten Tagen einmal, ganz gewiß.«

»Ich werde heiraten, Daniel.« Ich starrte den Hörer an und hatte das Gefühl, mein Skelett laufe ein paar Zentimeter ein.

»Bist du noch da, Daniel?«

»Ja.«

»Das hat dich überrascht.« Ich schluckte hart.

»Nein. Was mich überrascht, ist, daß du nicht längst geheiratet hast. An Freiern wird es ja nicht gefehlt haben. Wer ist denn der Glückliche?«

»Du kennst ihn nicht. Er heißt Jacobo und ist ein Freund meines Onkels Gustavo. Leitender Angestellter in der Bank von Spanien. Wir haben uns bei einem Opernkonzert kennengelernt, das mein Onkel organisiert hat. Jacobo ist ein großer Opernliebhaber. Er ist älter als ich, aber wir sind sehr gute Freunde, und das ist doch das Wichtige, meinst du nicht auch?« Mein Mund wollte Boshaftigkeiten von sich geben, aber ich biß mir auf die Zunge. Sie schmeckte nach Gift.

»Natürlich… Nun denn, herzlichen Glückwunsch.«

»Du wirst mir nie verzeihen, was, Daniel? Für dich werde ich immer Clara Barceló die Treulose sein.«

»Für mich wirst du immer Clara Barceló sein, Punktum. Auch das weißt du.« Wieder trat eine dieser Pausen ein, die heimtückisch weiße Haare geben.

»Und du, Daniel? Fermín sagt, du hast eine wunderhübsche Freundin.«

»Ich muß jetzt einhängen, Clara, ein Kunde ist gekommen. Ich ruf dich diese Woche mal an, und wir sehen uns zum Kaffee. Noch einmal herzlichen Glückwunsch.« Mit niedergeschlagenem Ausdruck und nicht sehr gesprächslustig kam mein Vater von seinem Kundenbesuch zurück. Während ich den Tisch deckte, machte er das Abendessen, ohne mich nach Fermín oder dem Tag in der Buchhandlung zu fragen. Beim Essen starrten wir auf unsere Teller und verschanzten uns hinter dem Geschwätz der Rundfunknachrichten. Mein Vater hatte kaum etwas zu sich genommen, nur in seiner wäßrigfaden Suppe gerührt, als suchte er auf dem Grund nach Gold.

»Du hast ja gar nichts gegessen«, sagte ich.Er zuckte die Schultern. Das Radio bombardierte uns weiter mit Unsinn, und mein Vater stand auf und schaltete es aus.

»Was stand denn in dem Brief von der Armee?« fragte er schließlich.

»Ich trete in zwei Monaten meinen Dienst an.« Ich hatte das Gefühl, sein Blick altere um zehn Jahre.

»Barceló sagt, durch Vitamin B werde er erreichen, daß man mich nach der Grundausbildung in den Militärbezirk Barcelona versetzt. So könnte ich sogar zu Hause übernachten.« Mein Vater nickte kraftlos. Es tat mir weh, seinen Blick auszuhalten, und ich stand auf, um den Tisch abzuräumen. Er blieb sitzen, den Blick ins Unbestimmte gerichtet und die Hände unter dem Kinn gefaltet. Ich wollte eben das Geschirr spülen, als ich im Treppenhaus Schritte hörte. Zielstrebige, eilige Schritte, die den Stufen zusetzten und eine unheilvolle Botschaft verhießen. Ich schaute auf und wechselte einen Blick mit meinem Vater. Die Schritte hielten auf unserem Treppenabsatz inne. Unruhig stand mein Vater auf. Eine Sekunde später wurde mehrmals an die Tür gehämmert, und eine donnernde Stimme rief:

»Polizei! Aufmachen!« Tausend Dolche drangen mir in den Kopf. Unter einer neuen Salve von Schlägen wankte die Tür. Mein Vater ging auf die Schwelle zu und klappte das Guckloch auf.

»Was wollen Sie um diese Zeit?«

»Entweder machen Sie auf, oder wir treten die Tür ein, Señor Sempere. Ich möchte es nicht wiederholen müssen.« Es war Fumeros Stimme, und mir wurde eiskalt. Mein Vater warf einen forschenden Blick auf mich. Ich nickte. Mit einem unterdrückten Seufzer öffnete er. Im gelblichen Licht des Treppenhauses zeichneten sich die Gestalten von Fumero und seinen beiden Trabanten ab.

»Wo ist er?« rief Fumero, während er meinen Vater mit harter Hand wegschob und sich ins Eßzimmer drängte.Mein Vater machte Anstalten, ihn zurückzuhalten, aber einer der beiden Polizisten, die dem Inspektor den Rücken deckten, packte ihn am Arm, drückte ihn gegen die Wand und hielt ihn so gefühllos und bestimmt fest wie eine dafür eingerichtete Maschine. Es war derselbe Mann, der Fermín und mir gefolgt war, derselbe, der mich festgehalten hatte, während Fumero vor dem Altenheim Santa Lucía meinen Freund zusammengeschlagen hatte, derselbe, der mich vor zwei Tagen beschattet hatte. Er warf mir einen leeren, unerforschlichen Blick zu. Ich trat zu Fumero, so ruhig, wie ich mich irgend geben konnte. Die Augen des Inspektors waren blutunterlaufen. Über seine linke Backe zog sich, gesäumt von trockenem Blut, eine frische Kratzwunde.