»Hast du etwas gegen Regenschirme, Daniel?«
»Was gibt es Schöneres als den Regen, Don Federico?«
»Die Lungenentzündung. Na, komm rein, dein Auftrag ist fertig.« Ich sah ihn verständnislos an. Er blickte mir fest in die Augen und lächelte weiter. Ich nickte bloß und folgte ihm in seinen Wunderbazar hinein. Drinnen reichte er mir eine kleine Packpapiertüte.
»Geh gleich wieder raus, der Hanswurst da, der die Buchhandlung überwacht, hat uns nicht aus den Augen gelassen.« Ich guckte in die Tüte hinein. Sie enthielt ein Büchlein mit Ledereinband, ein Meßbuch. Das Meßbuch, das Fermín in den Händen gehalten hatte, als ich ihn zum letzten Mal sah. Während mich Don Federico auf die Straße zurückschob, verschloß er mir mit einem ernsten Nicken die Lippen. Draußen setzte er wieder seine heitere Miene auf und sagte laut:
»Und denk daran, überdrehe die Krone nicht, wenn du sie aufziehst, sonst springt sie wieder raus, ja?«
»Keine Bange, Don Federico — und vielen Dank.« Ich ging mit einem Knoten im Magen davon, der sich mit jedem Schritt, den ich dem Polizisten vor der Buchhandlung näher kam, mehr zusammenzog. Als ich an ihm vorbeiging, grüßte ich ihn mit derselben Hand, in der ich Don Federicos Tüte trug. Er schaute sie mit unbestimmtem Interesse an. Ich wischte hinein. Mein Vater stand noch immer hinter dem Ladentisch, als hätte er seit meinem Weggang keine Bewegung gemacht.Bekümmert schaute er mich an.
»Hör zu, Daniel, wegen vorhin…«
»Mach dir keine Sorgen. Du hattest recht.«
»Du zitterst ja…« Ich nickte, worauf er die Thermoskanne holen ging. Das nutzte ich, um das kleine WC im Hinterraum aufzusuchen und mir das Meßbuch anzuschauen. Fermíns Notiz flatterte wie ein Schmetterling durch die Luft, und ich fing sie auf. Die Nachricht war in winziger Schrift auf ein beinahe durchsichtiges Stück Zigarettenpapier geschrieben, so daß ich es ins Gegenlicht halten mußte, um sie zu entziffern.
Lieber Daniel, glauben Sie kein Wort von dem, was die Zeitungen über den Mord an Nuria Monfort schreiben. Es ist wie immer
reiner Schwindel. Ich bin gesund und wohlbehalten und an einem sicheren Ort versteckt. Versuchen Sie nicht, mich zu finden oder mir eine Nachricht zukommen zu lassen. Vernichten Sie diese Notiz, sobald Sie sie gelesen haben. Sie brauchen sie nicht zu verschlucken, es reicht, wenn Sie sie verbrennen oder zerreißen. Ich werde mich mittels meiner Erfindungsgabe und der guten Dienste Dritter im Bunde mit Ihnen in Verbindung setzen. Bitte geben Sie das Wesentliche dieser Botschaft verschlüsselt und mit aller Diskretion meiner Liebsten weiter. Unternehmen Sie nichts. Ihr Freund, der dritte Mann,
Eben wollte ich das Blatt noch einmal durchlesen, als jemand an die WC-Tür klopfte.
»Darf man eintreten?« fragte eine unbekannte Stimme.Das Herz schlug mir bis zum Hals. Da ich nicht wußte, was ich sonst tun sollte, zerknüllte ich das Zigarettenpapier und steckte es in den Mund. Ich spülte und nutzte das Rauschen von Leitungen und Spülkasten, um das Papierkügelchen hinunterzuschlucken. Es schmeckte nach Wachs und Sugus. Als ich die Tür öffnete, erblickte ich das kriecherische Lächeln des Polizisten, der noch vor Augenblicken vor der Buchhandlung gestanden hatte.
»Verzeihen Sie. Ich weiß nicht, ob es wegen dem Regen ist, den ich den ganzen Tag höre, aber ich muß mal dringend, um es so zu sagen…«
»Aber selbstverständlich«, sagte ich und ließ ihn durch.
»Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
»Vielen Dank.« Der Polizist, der im Licht der Glühbirne wie ein Wiesel aussah, schaute mich von oben bis unten an. Sein Kloakenblick fiel auf das Meßbuch in meinen Händen.
»Ohne irgendwas zu lesen, geht es bei mir einfach nicht«, sagte ich.
»Genau wie bei mir. Und dann heißt es, die Spanier lesen nicht. Borgen Sie es mir?«
»Da oben auf dem Spülkasten ist die letzte Empfehlung des nationalen Kulturrats. Damit liegen Sie goldrichtig.« Ohne die Haltung zu verlieren, ging ich zu meinem Vater zurück, der dabei war, mir eine Tasse Milchkaffee zu machen.
»Was will der denn?« fragte ich.
»Er hat mir geschworen, er scheißt gleich in die Hose. Was sollte ich tun?«
»Ihn auf der Straße lassen — so wäre ihm warm geworden.« Mein Vater runzelte die Stirn.
»Wenn es dir nichts ausmacht, geh ich gleich nach oben.«
»Ja, natürlich. Und zieh dir trockene Sachen an, sonst kriegst du noch eine Lungenentzündung.« In der Wohnung war es kalt und still. Ich ging in mein Zimmer und spähte aus dem Fenster. Die zweite Wache stand noch immer da unten, vor dem Eingang zur Kirche Santa Ana. Ich zog die nassen Kleider aus und schlüpfte in einen warmen Pyjama und einen Morgenmantel, der meinem Großvater gehört hatte. Dann legte ich mich aufs Bett, ohne auch nur das Licht anzuknipsen, und überließ mich dem Halbdunkel und dem Prasseln des Regens auf den Scheiben. Ich schloß die Augen und versuchte Beas Bild, Berührung und Geruch heraufzubeschwören. In der vergangenen Nacht hatte ich kein Auge zugetan, und bald übermannte mich die Müdigkeit.Als ich erwachte, dämmerte durch die beschlagenen Scheiben grau der Morgen herein. Ich zog mich warm an, mit halbhohen Stiefeln. Dann ging ich leise auf den Gang hinaus, tastete mich durch die Wohnung und glitt auf die Straße hinaus. In der Ferne leuchteten schon die Lichter der Kioske auf den Ramblas. An dem bei der Einmündung zur Calle Tallers kaufte ich die erste Ausgabe des Tages, die noch nach frischer Farbe roch. Eilig blätterte ich mich durch die Seiten zu den Todesanzeigen. Nuria Monforts Name stand unter einem Kreuz, und ich spürte, wie mir die Augen flackerten. Mit der zusammengefalteten Zeitung unter dem Arm machte ich mich auf die Suche nach Dunkelheit. Die Beerdigung fand an diesem Nachmittag auf dem Friedhof des Montjuïc statt. Auf einem Umweg ging ich wieder nach Hause. Mein Vater schlief noch. In meinem Zimmer setzte ich mich an den Schreibtisch und zog den Füllfederhalter aus seinem Etui. Ich nahm ein weißes Blatt Papier und wünschte mir, er möchte mich lenken. Doch in meinen Händen hatte er nichts zu sagen. Umsonst suchte ich nach den Worten, die ich Nuria Monfort anbieten wollte, aber ich war unfähig, irgend etwas zu schreiben oder zu empfinden außer der unerklärlichen Angst, die mir ihr Fehlen verursachte. Schattenhaft gehst du hin, dachte ich. So, wie du gelebt hast.
29
Kurz vor drei Uhr nachmittags stieg ich auf dem Paseo de Colón in den Bus, der mich zum Friedhof des Montjuïc bringen sollte. Durchs Fenster sah man den Wald von Masten und flatternden Wimpeln im Hafenbecken. Der fast leere Bus fuhr um den Montjuïc-Hügel herum und nahm dann die Straße hinauf zum Eingang dieses großen Stadtfriedhofs. Ich war der letzte Fahrgast.
»Wann kommt denn der letzte Bus vorbei?« fragte ich den Fahrer.
»Um halb fünf.« Vor dem Friedhofseingang stieg ich aus. Eine Zypressenallee erhob sich im Dunst. Sogar von hier aus, zu Füßen des Hügels, erkannte man die unendliche Totenstadt, die immer weiter den Hang hinaufgewachsen war, bis sie die Kuppe überschritten hatte. Ein Labyrinth aus Gräbern, Grabsteinen, monumentalen Mausoleen, von Feuerengeln gekrönten Türmen, bemoosten Steinstatuen, die im Morast versanken. Ich atmete tief durch und ging hinein. Meine Mutter war etwa hundert Meter von diesem Weg entfernt begraben. Bei jedem Schritt spürte ich die Kälte dieses Ortes, den Schrecken der in vergilbten Fotomedaillons zwischen Kerzen und verwelkten Blumen festgehaltenen Gesichter. Kurz danach konnte ich in der Ferne die um das Grab herum angezündeten Gaslaternen sehen. Ein halbes Dutzend Menschen standen vor einem aschfarbenen Himmel. Ich beschleunigte meine Schritte und blieb stehen, sobald ich die Worte des Priesters vernehmen konnte.Der Sarg, eine Kiste aus unpoliertem Pinienholz, lag auf dem Lehm. Auf ihre Schaufeln gestützt, bewachten ihn zwei Totengräber. Ich betrachtete mir die Anwesenden. Der alte Isaac, der Aufseher des Friedhofs der Vergessenen Bücher, war nicht zur Beerdigung seiner Tochter gekommen. Ich erkannte Nuria Monforts Etagennachbarin, die unter Kopfschütteln weinte, während ihr ein abgehärmter Mann tröstend den Rücken streichelte, vermutlich ihr Mann. Neben ihnen stand eine etwa vierzig Jahre alte Frau, die einen Blumenstrauß trug. Sie weinte lautlos und mit zusammengepreßten Lippen, den Blick vom Grab abgewandt. Ich hatte sie noch nie gesehen. Etwas abseits der Gruppe befand sich in seinem grauen Mantel, den Hut auf dem Rücken, der Polizist, der mir am Vortag das Leben gerettet hatte, Palacios. Er schaute auf und beobachtete mich einige Sekunden, ohne mit der Wimper zu zucken. Die blinden, sinnentleerten Worte des Priesters waren das einzige, was uns von der schrecklichen Stille trennte. Ich betrachtete den mit Lehm besprenkelten Sarg und stellte mir vor, wie Nuria Monfort drin lag, und merkte nicht, daß ich weinte, bis die Unbekannte in Grau zu mir trat und mir eine Blume aus ihrem Strauß gab. Ich blieb stehen, bis sich die Gruppe zerstreute und die Totengräber auf ein Zeichen des Priesters ihre Arbeit zu verrichten begannen. Ich steckte die Blume in die Manteltasche und ging, unfähig, das Lebewohl auszusprechen, das ich mitgebracht hatte.Es begann zu dämmern, als ich zum Friedhofseingang kam, und ich nahm an, ich hätte den letzten Bus verpaßt, so daß ich mich darauf einrichtete, eine lange Wanderung zu machen, und auf der Straße losmarschierte, die den Hafen entlang nach Barcelona zurückführte. Etwa zwanzig Meter vor mir parkte ein schwarzes Auto mit eingeschaltetem Licht. Im Innern rauchte jemand eine Zigarette. Als ich näher kam, öffnete mir Palacios die Beifahrertür.