»Wissen Sie, daß ich noch nie in dieser Wohnung war?« fragte er.
»Immer, wenn wir uns getroffen haben, war es Nuria, die zu mir kam. ›Für Sie ist es einfacher, Vater‹, sagte sie. ›Wozu sollen Sie Treppen steigen?‹ Ich habe immer zu ihr gesagt: ›Na schön, wenn du mich nicht einlädst, komme ich auch nicht‹, und sie hat geantwortet: ›Ich brauche Sie nicht zu mir einzuladen, Vater, einladen tut man Fremde. Sie können kommen, wann immer Sie wollen.‹ In über fünfzehn Jahren habe ich sie nicht ein einziges Mal besucht. Immer habe ich zu ihr gesagt, daß sie ein übles Viertel ausgewählt hat. Wenig Licht. Ein altes Haus. Sie hat nur genickt. Ebenso, wenn ich ihr sagte, daß sie ein schlechtes Leben ausgewählt hat. Wenig Zukunft. Einen Mann ohne feste Arbeit. Merkwürdig, wie wir die andern beurteilen und nicht merken, wie elend unsere Geringschätzung ist — bis sie uns fehlen, bis man sie uns wegnimmt. Man nimmt sie uns weg, weil sie uns nie gehört haben…« Isaacs einst so bärbeißige Stimme klang brüchig.
»Nuria hat Sie sehr geliebt, Isaac. Daran dürfen Sie keinen Augenblick zweifeln. Und glauben Sie mir, sie wußte sich auch von Ihnen geliebt«, stotterte ich.Wieder schüttelte er den Kopf. Er lächelte durch die Tränen hindurch.
»Vielleicht hat sie mich geliebt, auf ihre Weise, so, wie ich sie geliebt habe, auf meine Weise. Aber gekannt haben wir uns nicht. Vielleicht weil ich nie zugelassen habe, daß sie mich kennenlernte, oder nie einen Schritt getan habe, um sie kennenzulernen. Wir haben das Leben wie zwei Fremde gelebt, die sich täglich sehen und sich aus Höflichkeit grüßen. Und vielleicht ist sie gestorben, ohne mir zu verzeihen.«
»Isaac, ich versichere Ihnen…«
»Ach, Daniel, Sie sind jung und bemühen sich, aber obwohl ich getrunken habe und nicht weiß, was ich sage, haben Sie noch nicht gut genug lügen gelernt, um einen alten Mann mit vergiftetem Herzen zu täuschen.« Ich schaute zu Boden.
»Die Polizei sagt, der Mann, der sie umgebracht hat, sei ein Freund von Ihnen«, sagte Isaac.
»Die Polizei lügt.« Er nickte.
»Ich weiß.«
»Ich versichere Ihnen…«
»Nicht nötig, Daniel. Ich weiß, daß Sie die Wahrheit sagen.« Er zog einen dicken Umschlag aus der Manteltasche.
»Am Abend vor ihrem Tod hat Nuria mich besucht, wie sie es vor Jahren immer getan hatte. Ich erinnere mich, daß wir dann in ein Café in der Calle Guardia essen gegangen sind, wo ich sie als Kind hingeführt hatte. Immer sprachen wir über Bücher, alte Bücher. Manchmal hat sie mir Dinge von der Arbeit erzählt, aber kein einziges Mal habe ich mich wirklich nach ihrem Leben erkundigt.«
»Isaac, bei allem Respekt, Sie haben getrunken wie ein Bürstenbinder und wissen nicht, was Sie sagen.«
»Der Wein macht den Weisen zum Narren und den Narren zum Weisen. Am letzten Abend, als wir uns sahen, hat sie mir diesen Umschlag gebracht. Sie war sehr unruhig, voller Sorge über etwas, was sie mir nicht erzählen wollte, und hat mich gebeten, diesen Umschlag für Sie zu verwahren und Ihnen zu geben, sollte etwas geschehen.«
»Sollte etwas geschehen?«
»So hat sie gesagt. Sie war so erregt, daß ich ihr vorschlug, gemeinsam zur Polizei zu gehen, wir würden schon eine Lösung finden, was für ein Problem es auch sein mochte. Da hat sie gesagt, die Polizei sei der letzte Ort, wo sie hin könne. Ich habe sie gebeten, sie soll mir sagen, worum es sich handelt, aber sie hat gesagt, sie müsse jetzt gehen. Und ich mußte ihr versprechen, Ihnen diesen Umschlag zu geben, wenn sie ihn in zwei Tagen nicht wieder abhole. Sie bat mich, ihn nicht zu öffnen.« Er gab mir den Umschlag. Er war geöffnet.
»Ich habe sie belogen, wie immer«, sagte er.Ich schaute hinein. Er enthielt ein Bündel handgeschriebene Blätter.
»Haben Sie sie gelesen?« fragte ich.Der Alte nickte langsam.
»Was steht denn drin?« Er schaute auf. Seine Lippen zitterten. Ich hatte den Eindruck, er sei um Jahre gealtert seit dem letzten Mal, wo ich ihn gesehen hatte.
»Es ist die Geschichte, die Sie gesucht haben, Daniel. Die Geschichte einer Frau, die ich nie kennengelernt habe, obwohl sie meinen Namen trug und mein Blut hatte. Jetzt gehört sie Ihnen.« Ich steckte den Umschlag in die Manteltasche.
»Ich muß Sie bitten, mich allein zu lassen. Vor einer Weile, als ich diese Seiten las, habe ich gedacht, ich finde sie wieder. Sosehr ich mich auch bemühe, ich kann mich an sie nur erinnern, als sie noch ein Mädchen war. Als Kind war sie sehr schweigsam, wissen Sie. Am meisten haben ihr Märchen gefallen. Immer hat sie mich gebeten, ihr Märchen vorzulesen, und ich glaube nicht, daß je ein Kind früher lesen gelernt hat. Sie wollte auch Geschichten erfinden und Schriftstellerin werden. Ihre Mutter sagte, das alles ist deine Schuld, Nuria betet dich an, und da sie denkt, du liebst nur Bücher, will sie eben Bücher schreiben, damit du auch sie liebst.«
»Isaac, ich halte es nicht für eine gute Idee, daß sie heute nacht allein bleiben. Warum kommen Sie nicht mit mir? Sie verbringen die Nacht bei uns und leisten erst noch meinem Vater Gesellschaft.« Wieder schüttelte er den Kopf.
»Ich habe zu tun, Daniel. Gehen Sie nach Hause und lesen Sie diese Seiten. Sie gehören Ihnen.« Der Alte wandte sich ab, und ich ging zur Tür. Ich stand bereits auf der Schwelle, als seine Stimme mich rief, beinahe flüsternd.
»Daniel?«
»Ja?«
»Seien Sie sehr vorsichtig.« Auf der Straße war es, als schleppe sich die Schwärze übers Pflaster, dicht auf meinen Fersen. Ich ging schneller und behielt dieses Tempo bei, bis ich zu unserer Wohnung in der Calle Santa Ana kam. Beim Eintreten sah ich meinen Vater mit einem Buch auf seinem Sessel sitzen. Es war ein Fotoalbum. Als er mich erblickte, stand er mit so erleichtertem Ausdruck auf, als wäre ihm ein gewaltiger Stein vom Herzen gefallen.
»Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, sagte er.
»Wie war die Beerdigung?« Ich zuckte die Schultern, und er nickte ernst, womit das Thema abgeschlossen war.
»Ich habe dir etwas zu essen gemacht. Wenn du magst, wärme ich es auf, und…«
»Ich habe keinen Hunger, danke. Ich habe unterwegs etwas Kleines gegessen.« Er schaute mir in die Augen, nickte wieder und begann die Teller vom Tisch abzuräumen. Da trat ich, ohne recht zu wissen, warum, zu ihm und umarmte ihn. Überrascht umarmte er mich ebenfalls.
»Daniel, ist dir nicht gut?« Ich drückte ihn kräftig.
»Ich habe dich lieb«, sagte ich leise.Die Glocken der Kathedrale schlugen Mitternacht, als ich Nuria Monforts Manuskript zu lesen begann. Ihre kleine, ordentliche Schrift erinnerte mich an die Reinlichkeit ihres Schreibtischs, als hätte sie in den Worten den Frieden und die Sicherheit gesucht, die ihr das Leben versagt hatte.
Nuria Monfort: Bericht über Erscheinungen
1933–1955
1
Julián Carax und ich lernten uns im Herbst 1933 kennen. Damals arbeitete ich für den Verleger Josep Cabestany. Señor Cabestany hatte Carax 1927 auf einer seiner verlegerischen
»Sondierungsreisen« nach Paris entdeckt. Julián verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit abendlichem Klavierspielen in einem Animierlokal, und des Nachts schrieb er. Die Inhaberin des Lokals, eine gewisse Irène Marceau, verkehrte mit den meisten Pariser Verlegern, und dank ihrer Bitten, Gefälligkeiten und Indiskretionsdrohungen hatte Julián in verschiedenen Verlagen mehrere Romane veröffentlichen können — mit katastrophalem kommerziellem Ergebnis. Für einen Spottpreis, der die Übersetzung der französisch geschriebenen Originale ins Spanische durch den Autor einschloß, hatte Cabestany die Exklusivrechte erworben, um Carax’ Werke in Spanien und Südamerika herauszubringen. Er war zuversichtlich, von jedem etwa dreitausend Exemplare absetzen zu können, aber die ersten beiden in Spanien publizierten Titel waren ein totales Fiasko: Von beiden wurden kaum hundert Exemplare verkauft. Trotz dieser Mißerfolge bekamen wir alle zwei Jahre von Julián ein neues Manuskript, das Cabestany immer bedenkenlos akzeptierte, da er mit dem Autor eine Verpflichtung eingegangen sei, schließlich bedeute Gewinn nicht alles und gute Literatur müsse man fördern.