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Neugierig fragte ich ihn eines Tages, warum er weiterhin Romane von Julián Carax veröffentliche und dabei regelmäßig Geld verliere. Wortlos ging er zu seinem Regal, zog eines von Juliáns Büchern heraus und forderte mich auf, es zu lesen. Das tat ich. Zwei Wochen später hatte ich sie alle gelesen. Diesmal lautete meine Frage, wie es möglich war, daß wir von diesen Romanen so wenig Exemplare verkauften.

»Ich weiß es nicht«, sagte Cabestany.

»Aber wir werden es weiterhin versuchen.« Das erschien mir eine bewundernswerte Geste, die nicht zu dem Bild von Geschäftstüchtigkeit passen wollte, das ich mir von Cabestany gemacht hatte. Vielleicht hatte ich ihn falsch eingeschätzt. Die Person von Julián Carax interessierte mich immer mehr. Alles mit ihm Zusammenhängende war von Geheimnis umgeben. Zumindest ein- oder zweimal monatlich rief jemand an und fragte nach Julián Carax’ Adresse in Paris. Bald merkte ich, daß es immer dieselbe Stimme war, die sich jedesmal als jemand anders ausgab. Ich sagte jeweils bloß das, was schon auf der letzten Seite der Bücher stand: daß Julián in Paris wohnte. Mit der Zeit meldete sich der Mann nicht mehr. Für alle Fälle hatte ich Juliáns Adresse aus den Verlagsarchiven gestrichen. Ich war die einzige, die ihm schrieb, und ich kannte sie auswendig.Monate später fiel mir zufällig ein Ordner mit Rechnungen in die Hand. Einerseits waren es die, welche die Druckerei für die Herstellungskosten von Julián Carax’ Büchern an Señor Cabestany schickte. Anderseits waren es Kopien der Rechnungen, die Cabestany seinerseits an jemanden schickte, der diese Kosten in voller Höhe übernahm. Es war ein Mann, der mit dem Verlag nichts zu tun und von dem ich noch nie gehört hatte: Miquel Moliner. Aber die Druck- und Auslieferungskosten waren wesentlich niedriger als die Señor Moliner fakturierte Summe, was bedeutete, daß der Verlag Geld verdiente, indem er Bücher druckte, welche direkt in ein Lager wanderten. Ich hatte nicht den Mut, Cabestanys finanzielle Machenschaften zu hinterfragen — ich fürchtete um meine Stelle. Aber ich schrieb mir die Adresse dieses Miquel Moliner auf, eine Hausnummer in der Calle Puertaferrisa. Monatelang trug ich diese Adresse mit mir herum, ehe ich es wagte, ihn aufzusuchen. Schließlich siegte mein Gewissen, und ich ging zu ihm, um ihm zu sagen, daß Cabestany ihn übers Ohr haue. Er lächelte und sagte, er wisse es.

»Jeder macht das, wozu er taugt.« Ich fragte ihn, ob er derjenige sei, der so oft angerufen habe, um Carax’ Adresse herauszufinden. Er verneinte und schärfte mir mit ernster Miene ein, diese Adresse niemandem zu geben. Niemals.Miquel Moliner war ein rätselhafter Mann. Er lebte allein in einem höhlenartigen, halb zerfallenen Palast, der zur Erbschaft seines Vaters gehörte, eines Industriellen, der mit der Fabrikation von Waffen und, wie es hieß, als Kriegsgewinnler reich geworden war. Miquel lebte alles andere als in Saus und Braus, sondern führte ein fast mönchisches Leben und ließ es sich angelegen sein, das in seinen Augen blutbesudelte Geld für die Restaurierung von Museen, Kathedralen, Schulen, Bibliotheken und Krankenhäusern durchzubringen und sicherzustellen, daß die Werke seines Jugendfreundes Julián Carax in seiner Geburtsstadt veröffentlicht wurden.

»Geld habe ich mehr als genug, Freunde wie Julián aber fehlen mir«, sagte er als einzige Erklärung.Mit seinen Geschwistern oder den restlichen Familienmitgliedern, von denen er wie von Fremden sprach, hatte er kaum Kontakt. Er war unverheiratet und verließ selten das Grundstück seines kleinen Palastes, in dem er nur den oberen Stock bewohnte. Dort hatte er sein Büro eingerichtet, wo er fieberhaft Artikel und Kolumnen für mehrere Madrider und Barceloneser Zeitungen und Zeitschriften verfaßte, technische Texte aus dem Französischen und Deutschen übersetzte sowie Lexika und Schulbücher stilistisch überarbeitete. Miquel Moliner war besessen von der Krankheit des Büßerfleißes, und obwohl er bei andern den Müßiggang respektierte, ja sie darum beneidete, mied er ihn selbst wie die Pest. Aber er prahlte nicht mit seinem Arbeitsethos, sondern machte sich über seinen Produktionszwang lustig und nannte ihn eine harmlosere Art der Feigheit.

»Beim Arbeiten braucht man dem Leben nicht in die Augen zu schauen.« Fast ohne es zu merken, wurden wir gute Freunde. Wir hatten vieles gemeinsam, vielleicht allzu vieles. Miquel erzählte mir von Büchern, von seinem angebeteten Dr. Freud, von Musik, vor allem aber von seinem alten Freund Julián. Wir sahen uns fast allwöchentlich. Er erzählte mir Geschichten aus Juliáns Tagen an der SanGabriel-Schule, Er hatte eine Sammlung alter Fotos und von einem halbwüchsigen Julián geschriebener Erzählungen. Er bewunderte Julián, und durch seine Worte und Erinnerungen entdeckte ich ihn allmählich, machte mir in seiner Abwesenheit ein Bild von ihm. Ein Jahr nachdem wir uns kennengelernt hatten, gestand mir Miquel Moliner, er habe sich in mich verliebt. Ich wollte ihn nicht verletzen, ebensowenig aber beschwindeln. Es war unmöglich, Miquel zu beschwindeln. Ich sagte ihm, ich schätze ihn über alles, er sei mein bester Freund geworden, aber verliebt sei ich nicht in ihn. Er sagte, das wisse er bereits.

»Du bist in Julián verliebt, weißt es aber noch nicht.« Im August 1933 kündigte mir Julián brieflich an, er habe das Manuskript eines neuen Romans mit dem Titel Der Kathedralendieb beinahe beendet. Im September mußte Cabestany mit Gallimard einige Verträge erneuern, doch seit Wochen war er durch einen Gichtanfall zur Untätigkeit verurteilt und schickte deshalb — und zur Belohnung für meine Hingabe — an seiner Stelle mich nach Paris, um die neuen Verträge auszuhandeln und gleichzeitig Julián zu besuchen und seinen jüngsten Roman mitzunehmen. Ich kündigte Julián meinen Besuch für Mitte September an und bat ihn, mir ein einfaches, erschwingliches Hotel zu empfehlen. Er antwortete, ich könne bei ihm wohnen, in einer bescheidenen Wohnung in St-Germain, und mir das Geld fürs Hotel für andere Ausgaben sparen. Am Tag vor meiner Abreise besuchte ich Miquel, um ihn zu fragen, ob ich Julián etwas von ihm bestellen könne. Er zögerte lange und verneinte dann.Das erste Mal, daß ich Julián persönlich sah, war auf der Gare d’Austerlitz. Hinterrücks hatte in Paris der Herbst Einzug gehalten, und der Bahnhof war in Nebel gehüllt. Ich wartete auf dem Bahnsteig, während die Fahrgäste dem Ausgang zustrebten. Bald war ich allein und sah einen Mann in schwarzem Mantel am Ende des Bahnsteigs stehen, der mich durch den Rauch seiner Zigarette beobachtete. Auf der Fahrt hatte ich mich immer wieder gefragt, wie ich Julián erkennen würde. Die Fotos, die ich bei Miquel von ihm gesehen hatte, waren mindestens dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Ich schaute mich auf dem Bahnsteig um. Da war niemand mehr außer dieser Gestalt und mir. Ich sah, daß der Mann mich ziemlich neugierig musterte, vielleicht weil er jemand anders erwartet hatte, wie ich auch. Das konnte nicht er sein. Nach meinen Informationen war Julián inzwischen zweiunddreißig, und dieser Mann sah bejahrt aus. Er hatte weiße Haare und einen traurigen oder abgespannten Ausdruck. Zu blaß und zu dünn, aber möglicherweise war es auch nur der Nebel und meine Ermüdung von der Reise. Ich hatte mir einen jungenhaften Julián vorgestellt. Vorsichtig ging ich auf den Unbekannten zu und schaute ihm in die Augen.

»Julián?« Der Fremde lächelte und nickte. Julián Carax hatte das schönste Lächeln der Welt. Das war ihm als einziges geblieben.Er wohnte in einer Mansardenwohnung in St-Germain, die nur zwei Räume hatte: ein Wohnzimmer mit Küchennische, das auf einen Balkon hinausführte, und ein fensterloses Schlafzimmer mit einem Einzelbett. Das Bad am Ende des Gangs im unteren Stock teilte er mit seinen Mitbewohnern. Insgesamt war die Wohnung kleiner als Señor Cabestanys Büro. Julián hatte gewissenhaft saubergemacht und alles vorbereitet, um mich einfach und schicklich zu empfangen. Ich tat, als wäre ich entzückt von der Wohnung, die noch nach Desinfektionsmitteln und dem Wachs roch, das er mit mehr Eifer als Geschick aufgetragen hatte. Die Bettücher waren neu. Ich glaube, sie waren mit Zeichnungen von Drachen und Schlössern bedruckt. Kinderlaken. Julián entschuldigte sich mit den Worten, er habe sie zu einem Sonderpreis erhalten, sie seien aber von erster Qualität. Die nichtbedruckten seien doppelt so teuer und dazu langweiliger.Im Wohnzimmer stand ein alter Holzschreibtisch mit Sicht auf die Türme der Kathedrale. Darauf die mit Cabestanys Vorschuß gekaufte UnderwoodSchreibmaschine und zwei Stapel Blätter, einer weiß und der andere auf beiden Seiten beschrieben. Julián teilte die Wohnung mit einem riesigen weißen Kater namens Kurtz, der mich zu Füßen seines Herrchens argwöhnisch beobachtete und sich die Pfoten leckte. Ich zählte zwei Stühle, einen Garderobenhalter und wenig mehr. Alles andere waren Bücher. Mauern von Büchern bedeckten in einer Doppelreihe die Wände vom Boden bis zur Decke. Als ich mir alles genau anschaute, seufzte Julián.