»Zwei Straßen weiter gibt es ein Hotel. Sauber, erschwinglich und achtbar. Ich habe mir erlaubt, ein Zimmer zu reservieren…« Ich hatte meine Zweifel, fürchtete aber, ihn zu beleidigen.
»Hier werde ich mich ausgezeichnet fühlen, vorausgesetzt, ich falle dir und Kurtz nicht zur Last.« Kurtz und Julián wechselten einen Blick. Julián schüttelte den Kopf, desgleichen der Kater. Ich hatte noch gar nicht bemerkt, wie sehr sie einander glichen. Julián wollte mir unbedingt sein Schlafzimmer abtreten. Er schlafe kaum und werde sich im Wohnzimmer auf einem Klappbett einrichten, das ihm sein Nachbar, Monsieur Darcieu, geborgt habe, ein greiser Zauberkünstler, der den Mademoiselles für einen Kuß aus der Hand las. Erschöpft von der Reise, schlief ich diese erste Nacht durch. Als ich am frühen Morgen erwachte, sah ich, daß Julián ausgegangen war. Kurtz schlief auf der Schreibmaschine seines Herrchens und schnarchte wie eine Bulldogge. Ich trat an den Schreibtisch und sah das Manuskript des neuen Romans, das ich holen gekommen war.
Der KathedralendiebAuf der ersten Seite stand, wie in allen Romanen Juliáns, von Hand geschrieben: Für P.
Ich war versucht, auf der Stelle mit dem Lesen zu beginnen. Als ich eben die zweite Seite nehmen wollte, sah ich, daß Kurtz mich drohend anschaute. Wie ich es bei Julián gesehen hatte, schüttelte ich den Kopf. Der Kater tat ein Gleiches, und ich legte die Seiten zurück. Kurz darauf erschien Julián mit duftendem Brot, einer Thermoskanne Kaffee und Frischkäse. Wir frühstückten auf dem Balkon. Er sprach unablässig, wich meinem Blick aber aus. Im Morgenlicht erschien er mir wie ein gealtertes Kind. Er war frisch rasiert und trug seine vermutlich einzige anständige Kleidung, einen zwar abgetragenen, aber eleganten cremefarbenen Anzug. Ich hörte ihm zu, wie er mir von den Geheimnissen von Notre-Dame erzählte und einer angeblichen Barkasse, die nachts auf der Seine kreuze und die Seelen verzweifelter Liebender auflese, welche sich im eisigen Wasser das Leben genommen hatten, von tausend Zaubern, die er fortlaufend erfand, damit ich ihm keine Fragen stellen konnte. Ich betrachtete ihn schweigend, nickte, suchte in ihm den Mann, der die Bücher geschrieben hatte, die ich vor lauter Wiederlesen fast auswendig kannte, den Jungen, den mir Miquel Moliner so oft geschildert hatte.
»Wie viele Tage wirst du in Paris sein?« fragte er.
Meine Geschäfte bei Gallimard würden mich vermutlich zwei oder drei Tage in Anspruch nehmen. Mein erster Termin war auf diesen Nachmittag angesetzt. Ich sagte, ich hätte vor, mir zwei Tage zuzugestehen, um vor meiner Rückkehr nach Barcelona die Stadt kennenzulernen.
»Paris erfordert mehr als zwei Tage«, sagte er.
»Mehr Zeit habe ich nicht, Julián. Señor Cabestany ist ein großzügiger Patron, aber alles hat seine Grenzen.«
»Cabestany ist ein Pirat, aber sogar er weiß, daß man Paris nicht in zwei Tagen sieht, auch nicht in zwei Monaten oder zwei Jahren.«
»Ich kann nicht zwei Jahre in Paris bleiben, Julián.« Er schaute mich lange schweigend an und lächelte.
»Warum eigentlich nicht? Wartet jemand auf dich?« Die Verhandlungen mit Gallimard und meine Höflichkeitsbesuche bei verschiedenen Verlegern, mit denen Cabestany Verträge hatte, beanspruchten wie vorausgesehen drei ganze Tage. Julián hatte mir einen Führer und Beschützer zugewiesen, einen Jungen namens Hervé, knapp dreizehn Jahre alt, der die Stadt in- und auswendig kannte. Er begleitete mich von Tür zu Tür, zeigte mir, in welchen Cafés man einen Happen essen konnte, welche Straßen es zu meiden, was es zu sehen galt. Stundenlang wartete er vor den Verlagsbüros auf mich, ohne irgendein Trinkgeld anzunehmen. Er radebrechte ein lustiges, italienisch und portugiesisch gefärbtes Spanisch.
»Signore Carax ya me ha pagato con tuoda generosidade por meus serviçios…« Wie ich allmählich herausfand, war Hervé Waise einer der Damen aus Irène Marceaus Etablissement, in dessen Dachgeschoß er wohnte. Julián hatte ihm das Lesen, Schreiben und Klavierspielen beigebracht. Sonntags nahm er ihn mit ins Theater oder in ein Konzert. Hervé vergötterte Julián und schien bereit, alles für ihn zu tun, mich wenn nötig sogar ans Ende der Welt zu führen. An unserem dritten gemeinsamen Tag fragte er mich, ob ich Signore Carax’ Freundin sei. Ich verneinte — nur eine Freundin auf Besuch. Er wirkte enttäuscht.Julián verbrachte fast alle Nächte schlaflos, saß mit Kurtz auf dem Schoß an seinem Schreibtisch, überlas einzelne Seiten oder betrachtete einfach die Kathedralentürme in der Ferne. Eines Nachts, als auch ich wegen des aufs Dach prasselnden Regens nicht schlafen konnte, ging ich ins Wohnzimmer hinüber. Wir sahen uns wortlos an, und Julián gab mir eine Zigarette. Lange schauten wir schweigend in den Regen. Dann, als er aufhörte, fragte ich, wer P. sei.
»Penélope«, antwortete er.Ich bat ihn, mir von ihr, von seinen dreizehn Jahren Paris zu erzählen. Mit gedämpfter Stimme sagte er mir im Halbdunkeln, Penélope sei die einzige Frau, die er je geliebt habe.
In einer Winternacht des Jahres 1921 fand Irène Marceau Julián Carax, der, Blut erbrechend, durch die Straßen irrte und sich nicht an seinen Namen erinnern konnte. Er hatte ein paar wenige Münzen und einige zusammengefaltete Manuskriptseiten bei sich. Irène las sie und dachte, sie sei auf einen berühmten Autor gestoßen, einen unverbesserlichen Säufer, und vielleicht würde ein großzügiger Verleger es ihr lohnen, wenn der Mann das Bewußtsein wiedererlangte. Wenigstens war das ihre Version, Julián hingegen wußte, daß sie ihm aus Mitleid das Leben gerettet hatte. Er verbrachte sechs Monate in einem Zimmer im Dachgeschoß ihres Bordells und erholte sich. Die Ärzte machten Irène darauf aufmerksam, daß sie für diesen Mann nicht bürgen könnten, falls er sich noch einmal vergifte. Er hatte sich Magen und Leber zerstört und würde sich für den Rest seiner Tage nur noch von Milch, Frischkäse und Brot ernähren können. Als er wieder sprechen konnte, fragte ihn Irène, wer er sei.
»Niemand«, antwortete Julián.
»Aber niemand lebt auf meine Kosten. Was kannst du?« Julián sagte, er könne Klavier spielen.
»Zeig es.« Er setzte sich im Salon ans Klavier und spielte vor fünfzehn gespannt zuhörenden halbwüchsigen Hürchen in Unterwäsche ein Chopin-Nocturne. Alle applaudierten außer Irène, die sagte, das sei Musik von Toten, sie aber machten ihr Geschäft mit den Lebenden. Julián spielte für sie einen Ragtime und zwei Stücke von Offenbach.
»Das ist schon besser.« Seine neue Stelle bescherte ihm einen Lohn, ein Dach über dem Kopf und zwei Mahlzeiten täglich.