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Eines Abends trat ihm Jorge Aldaya zwei Blocks von seinem Haus entfernt aus dem Schatten entgegen.

»Kommst du schon, um mich umzubringen?« fragte Miquel. Jorge sagte, er komme, um ihm und seinem Freund Julián einen Gefallen zu tun, gab ihm einen Brief und legte ihm nahe, ihn an Julián weiterzuleiten, wo immer er sich auch verstecken möge, »zum Besten von allen«. Der Umschlag enthielt ein von Penélope beschriebenes Blatt:

Lieber Julián, ich schreibe Dir, um Dir zu sagen, daß ich demnächst heiraten werde, und Dich zu bitten, mir nicht mehr zu schreiben, sondern mich zu vergessen und noch einmal neu anzufangen. Ich grolle Dir nicht, aber ich wäre unaufrichtig, wenn ich Dir nicht gestände, daß ich Dich nie geliebt habe und nie werde lieben können. Ich wünsche Dir das Beste, wo immer Du sein magst.

Penélope

Miquel las den Brief wieder und wieder. Die Schrift war unverkennbar, doch er glaubte keinen Moment daran, daß ihn Penélope aus eigenem Antrieb geschrieben hatte.

»Wo immer du sein magst« — sie wußte ganz genau, daß Julián in Paris war und auf sie wartete. Wenn sie vorgab, seinen Verbleib nicht zu kennen, überlegte Miquel, dann, um ihn zu schützen. Aus dem gleichen Grund konnte er auch nicht verstehen, was sie dazu gebracht haben mochte, diese Zeilen zu schreiben. Womit konnte ihr Don Ricardo Aldaya denn sonst noch drohen, als sie monatelang wie eine Gefangene in einem Zimmer einzuschließen? Penélope wußte besser als jeder andere, daß dieser Brief ein vergifteter Dolchstoß in Juliáns Herz war — ein junger Mann von neunzehn Jahren, verloren in einer fernen, feindlichen Stadt, von allen verlassen, knapp überlebend dank der trügerischen Hoffnung, sie wiederzusehen. Wovor wollte sie ihn schützen, wenn sie ihn dergestalt von sich wies? Nach langem Überlegen beschloß er, den Brief nicht weiterzuschicken. Nicht, bevor er den Grund dafür erfuhr. Ohne triftigen Grund sollte nicht seine Hand es sein, die dem Freund diesen Dolch ins Herz stieße.

Ein paar Tage später hörte er, daß Don Ricardo Aldaya, der es leid war, Jacinta Coronado wie einen Wachposten vor der Tür seines Hauses auf Nachrichten von Penélope lauern zu sehen, seine Beziehungen hatte spielen und die Kinderfrau seiner Tochter ins Irrenhaus von Horta einsperren lassen. Als Miquel Moliner sie besuchen wollte, wurde ihm die Erlaubnis verweigert. Die ersten drei Monate sollte sie in Isolation verbringen. Nach drei Monaten Stille und Dunkelheit, erklärte ihm einer der Ärzte, ein blutjunges, strahlendes Bürschchen, sei die Fügsamkeit der Patientin gewährleistet. Einer plötzlichen Eingebung folgend, suchte Miquel die Pension auf, in der Jacinta in den Monaten nach ihrem Hinauswurf gewohnt hatte. Als er sagte, wer er war, erinnerte sich die Inhaberin, daß Jacinta eine Nachricht auf seinen Namen hinterlassen und drei Wochenmieten schuldig geblieben war. Er beglich die Schuld, an deren Richtigkeit er seine Zweifel hatte, und bekam die Nachricht ausgehändigt, in der die Kinderfrau ihm mitteilte, sie wisse, daß eines der Dienstmädchen im Hause Aldaya, Laura, entlassen worden sei, nachdem man erfahren habe, daß sie Julián insgeheim einen von Penélope verfaßten Brief habe zukommen lassen. Miquel sagte sich, die einzige Adresse, wohin Penélope aus ihrer Gefangenschaft den Brief habe schicken können, sei die Wohnung von Juliáns Eltern in der Ronda de San Antonio, weil sie darauf vertraute, daß sie ihn dann an ihren Sohn nach Paris weiterleiten würden.

Also beschloß er, Sophie Carax zu besuchen, um diesen Brief zu holen und Julián zu schicken. Als er beim Haus der Fortunys eintraf, erlebte er eine unheilverkündende Überraschung: Sophie Carax wohnte nicht mehr dort. Sie hatte ihren Mann einige Tage zuvor verlassen — das wenigstens wurde im Treppenhaus gemunkelt. Nun versuchte er, mit dem Hutmacher zu sprechen, der seine Tage zurückgezogen im Laden verbrachte, von Wut und Demütigung zerfressen. Miquel gab ihm zu verstehen, er sei gekommen, um einen vor einigen Tagen für seinen Sohn Julián eingetroffenen Brief zu holen.

»Ich habe keinen Sohn«, bekam er als einzige Antwort zu hören.Miquel Moliner ging wieder, ohne zu wissen, daß dieser Brief bei der Pförtnerin des Hauses gelandet war und daß viele Jahre später du, Daniel, ihn finden und die Worte lesen würdest, die Penélope, diesmal von Herzen, an Julián geschrieben hatte und die er nie zu Gesicht bekommen sollte.Als er den Hutladen Fortuny verließ, trat eine Nachbarin, die sich als Viçenteta zu erkennen gab, zu ihm und fragte ihn, ob er Sophie suche. Er bejahte.

»Ich bin ein Freund von Julián.« Die Viçenteta teilte ihm mit, Sophie vegetiere in einer Pension hinter dem Hauptpostamt dahin und warte auf die Abfahrt des Schiffs, das sie nach Südamerika bringen sollte. Miquel wandte sich dorthin und fand ein enges, elendes Treppenhaus ohne Licht und Luft. Zuoberst in dieser staubigen Spirale mit den schiefen Stufen traf er in einem düsteren, feuchten Zimmer auf Sophie Carax. Dem Fenster zugewandt, saß Juliáns Mutter auf der Kante einer tristen Pritsche, auf der wie Särge zwei noch geschlossene Koffer lagen und ihre zweiundzwanzig Barceloneser Jahre besiegelten.Als sie den von Penélope unterschriebenen Brief las, den Jorge Aldaya Miquel gebracht hatte, vergoß sie Tränen der Wut.

»Sie weiß es«, murmelte sie.

»Das arme Ding, sie weiß es…«

»Sie weiß was?« fragte Miquel.

»Es ist meine Schuld. Es ist meine Schuld.« Verständnislos nahm Miquel ihre Hände. Sophie getraute sich nicht, ihn anzuschauen.

»Penélope und Julián sind Geschwister«, flüsterte sie.

3

Sophie Carax war knapp neunzehn, als sie mittellos nach Barcelona kam. Eine Musikschule in der Calle Diputación erklärte sich bereit, sie als Privatlehrerin für Klavier und Gesang anzustellen. Damals gehörte es zum guten Ton, daß Töchter angesehener Familien in Gesellschaftskünsten unterrichtet wurden und das nötige Rüstzeug für Salonmusik verabreicht bekamen — im Salon war die Polonaise weniger riskant als das Gespräch oder eine zweifelhafte Lektüre. So begann Sophie Carax, palastähnliche Häuser zu besuchen, wo sie von steifen, stummen Hausangestellten in Musiksalons geführt wurde, in denen der feindselige Nachwuchs der industriellen Aristokratie sie erwartete, um sich über ihren Akzent, ihre Schüchternheit oder ihre Dienstmädchenstellung lustig zu machen, Noten hin oder her. Mit der Zeit lernte sie, sich auf das Zehntel derjenigen Schüler zu konzentrieren, die sich über den Rang von parfümiertem Ungeziefer erhoben, und den Rest zu vergessen.

In dieser Zeit lernte sie einen jungen Hutmacher (wie er sich mit zünftigem Stolz nannte) namens Antoni Fortuny kennen, der offensichtlich fest entschlossen war, ihr um jeden Preis den Hof zu machen. Fortuny, für den Sophie eine herzliche Freundschaft und sonst nichts empfand, schlug ihr schon bald die Ehe vor — ein Antrag, den sie von Mal zu Mal ausschlug. Bei jedem Abschied vertraute sie darauf, ihn nicht wiederzusehen, da sie ihn nicht kränken mochte. Der Hutmacher, taub für jeden Korb, versuchte es immer von neuem, lud sie auf einen Ball, zu einem Spaziergang oder zu einem Imbiß mit Biskuit und Schokolade in der Calle Canuda ein. Da sie in Barcelona allein war, konnte sie sich kaum gegen seine Gesellschaft und Verehrung zur Wehr setzen. Sie brauchte ihn aber nur anzuschauen, um zu wissen, daß sie ihn nie würde lieben können — nicht so, wie sie sich eines Tages jemanden lieben zu können erträumte. Aber es fiel ihr schwer, das Bild von sich selbst zurückzuweisen, das sie in des Hutmachers verzauberten Augen sah. Nur in ihnen sah sie die Sophie, die sie gern gewesen wäre.