Выбрать главу

»Julián liebt diese Frau nicht, Nuria.« Miquel dachte, das sei der Grund für meinen Kummer.

»Julián liebt niemand außer sich selbst und seine verdammten Bücher.« Ich schaute auf und sah Miquels Lächeln, das Lächeln eines alten, weisen Kindes.

»Und was beabsichtigt Fumero damit, daß er diese ganze Sache gerade jetzt ans Licht bringt?« Es sollte nicht lange dauern, bis wir es erfuhren. Nach einigen Tagen erschien zornentbrannt ein geisterhafter, ausgehungerter Jorge bei uns. Fumero hatte ihm erzählt, Julián Carax werde in einer Zeremonie von romanhaftem Prunk eine reiche Frau heiraten. Seit Tagen zerfraß sich Aldaya bei der Vorstellung, wie sich der Urheber seines Elends in Flitter und Tand kleidete und in den Genuß eines Vermögens kam, das er hatte davonschwimmen sehen. Nicht erzählt hatte ihm Fumero, daß Irène Marceau zwar eine Frau mit einer gewissen wirtschaftlichen Position, aber Bordellinhaberin und keine Märchenprinzessin war. Nicht erzählt hatte er ihm, daß die Braut dreißig Jahre älter war als Carax und daß das Ganze weniger eine Hochzeit denn ein Akt der Nächstenliebe gegenüber einem erledigten Mann ohne Lebensunterhalt war. Nicht genannt hatte er ihm Ort und Zeitpunkt der Vermählung. Er hatte bloß den Keim zu einer Fantasie gelegt, die das wenige zerfraß, was das Fieber in seinem abgezehrten Körper noch übriggelassen hatte.

»Fumero hat dich belogen, Jorge«, sagte Miquel.

»Gerade du wagst es, von Lügen zu sprechen!« fauchte Jorge.Aldaya brauchte seine Gedanken nicht offenzulegen, sie waren von seinem leichenhaften Gesicht abzulesen. Miquel durchschaute Fumeros Spiel ganz genau. Schließlich hatte er ihm vor über zwanzig Jahren in der San-Gabriel-Schule das Schachspiel beigebracht. Miquel schickte Julián eine Notiz, um ihn zu warnen.Sowie Fumero es für angezeigt hielt, nahm er Aldaya beim Schlafittchen und sagte ihm, Julián heirate in drei Tagen. Als Polizeioffizier, argumentierte er, könne er sich in einer solchen Angelegenheit nicht kompromittieren. Aldaya als Zivilist dagegen könne nach Paris fahren und dafür sorgen, daß diese Hochzeit nie stattfinde. Wie? fragte ein fiebriger, vor Haß ausgebrannter Aldaya. Indem er ihn am Hochzeitstag zum Duell fordere. Fumero verschaffte ihm sogar die Pistole, mit der Jorge, so dessen Überzeugung, dieses gallige Herz durchlöchern würde, das die Aldaya-Dynastie in den Ruin getrieben hatte. Später würde es im Bericht der Pariser Polizei heißen, die bei Aldaya gefundene Waffe sei schadhaft und hätte niemals mehr ausrichten können, als sie ausgerichtet hatte, nämlich sein eigenes Gesicht zu zerschmettern. Das wußte Fumero natürlich, als er sie ihm auf dem Bahnsteig der Estación de Francia aushändigte. Er wußte ganz genau, daß Fieber, Dummheit und blinde Wut ihn daran hindern würden, Julián Carax frühmorgens auf dem Friedhof Père Lachaise in einem verkaterten Ehrenduell zu töten. Nicht Carax sollte in diesem Duell sterben, sondern Aldaya. Sein sinnloses Leben, sein Körper und seine unentschlossene Seele, die Fumero geduldig hatte dahinvegetieren lassen, hätten ihre Schuldigkeit getan.Fumero sagte Aldaya ganz genau, welche Schritte er zu unternehmen habe. Er sollte Julián gestehen, der Brief, in dem ihm Penélope vor Jahren ihre Hochzeit angekündigt und ihn gebeten habe, sie zu vergessen, sei ein Schwindel gewesen. Er, Jorge Aldaya, habe seine Schwester persönlich gezwungen, dieses ganze Lügengewebe zu verfassen, während sie Tränen der Verzweiflung weinte. Er sollte ihm sagen, seither habe sie in tödlicher Verlassenheit mit gebrochener Seele und blutendem Herzen auf ihn gewartet. Das würde genügen. Es würde genügen, daß Carax abdrückte. Es würde genügen, daß er seine Hochzeitspläne fallenließe und keinen andern Gedanken zu fassen mehr imstande wäre, als nach Barcelona zu Penélope zurückzukehren. Und in Barcelona, diesem großen Spinnennetz, das er sich zu eigen gemacht hatte, würde ihn Fumero erwarten.

7

Julián Carax überschritt die Grenze zu Spanien wenige Tage vor Ausbruch des Bürgerkriegs. Die erste und einzige Auflage von Der Schatten des Windes hatte zwei Wochen zuvor die Druckerei verlassen und befand sich auf dem Weg in die graue Anonymität und Unsichtbarkeit der Vorgängerromane. In dieser Zeit konnte Miquel kaum noch arbeiten, und obwohl er sich täglich zwei oder drei Stunden an die Schreibmaschine setzte, verwehrten es ihm Schwäche und Fieber, mehr als ein paar Worte zu Papier zu bringen. Wegen verspäteter Abgabe der Artikel hatte er die Aufträge mehrerer Zeitungen verloren. Andere fürchteten sich, seine Texte zu veröffentlichen, nachdem sie verschiedentlich anonyme Drohungen erhalten hatten. Es blieb ihm nur noch eine tägliche Kolumne beim Diario de Barcelona, die er mit Adrián Maltés unterzeichnete. Schon war der Geist des Krieges in der Luft zu spüren. Das Land roch nach Angst. Ohne Beschäftigung und sogar zum Jammern zu schwach, pflegte Miquel auf den Platz hinunterzugehen oder wagte sich bis zur Avenida de la Catedral vor; immer hatte er, wie ein Amulett, ein Buch von Julián bei sich. Das letzte Mal, als der Arzt ihn wog, brachte er keine sechzig Kilo mehr auf die Waage. Im Rundfunk hörten wir die Nachricht vom Aufstand in Marokko, und wenige Stunden später besuchte uns ein Kollege von Miquel aus der Redaktion und sagte, vor zwei Stunden sei Cansinos, der Chefredakteur, vor dem Café Canaletas durch einen Nackenschuß umgebracht worden. Niemand wagte die Leiche wegzubringen; sie blieb dort liegen und zeichnete ein blutiges Netz auf den Gehweg.

Die Tage des Anfangsterrors ließen nicht lange auf sich warten. General Godeds Truppen rückten über die Diagonal und den Paseo de Gracia zum Zentrum vor, wo sie das Feuer eröffneten. Es war Sonntag, und viele Barcelonesen waren noch ausgegangen, um den Tag in einem Ausflugslokal auf der Carretera de Las Planes zu verbringen. Doch bis zu den schwärzesten Kriegstagen in Barcelona sollte es noch zwei Jahre dauern. Kurz nach Ausbruch der Schießereien ergaben sich General Godeds Truppen — wie durch ein Wunder oder aber wegen schlechter Kommunikation unter den Führern. Lluís Companys’ Regierung schien die Kontrolle zurückgewonnen zu haben, aber was wirklich geschehen war, hatte eine viel größere Tragweite und sollte sich in den kommenden Wochen allmählich zeigen.

Barcelona befand sich nun in der Hand der anarchistischen Gewerkschaften. Nach Tagen der Unruhen und Straßenkämpfe ging schließlich das Gerücht um, die vier Putschgeneräle seien kurz nach der Kapitulation im Kastell des Montjuïc hingerichtet worden. Ein Freund von Miquel, ein englischer Journalist, der zugegen war, sagte, das Exekutionskommando habe aus sieben Mann bestanden, aber im letzten Moment hätten sich Dutzende Milizangehörige zugesellt, und nachdem der Schießbefehl erteilt worden sei, hätten die Körper so viele Kugeln bekommen, daß sie bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt worden seien. Manche dachten, das sei das Ende des Konflikts, die faschistischen Truppen würden nie nach Barcelona gelangen und der Aufstand würde sich unterwegs auflösen. Doch es war erst der Anfang gewesen.

Daß Julián in Barcelona war, erfuhren wir durch einen Brief von Irène Marceau, den wir am Tag von Godeds Kapitulation bekamen und in dem sie uns mitteilte, Julián habe bei einem Duell auf dem Friedhof Père Lachaise Jorge Aldaya getötet. Noch bevor Aldaya die Seele aushauchte, habe ein anonymer Anruf die Polizei von dem Vorfall unterrichtet. Da ihn diese wegen Mordes suchte, mußte Julián auf der Stelle aus Paris verschwinden. Wir hatten keinen Zweifel, von wem dieser Anruf stammte, und warteten sehnlichst auf Julián, um ihn vor der Gefahr, die auf ihn lauerte, zu warnen und vor einer noch schlimmeren: vor der Entdeckung der Wahrheit. Nach drei Tagen hatte er noch immer kein Lebenszeichen gegeben. Miquel mochte seine Ängste nicht mit mir teilen, aber ich wußte ganz genau, was er dachte. Julián war wegen Penélope zurückgekommen, nicht unseretwegen.

»Was geschieht, wenn er die Wahrheit herauskriegt?« fragte ich.