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Sie schritt unsicher die Stufen hinauf. Jede war so tief, daß sie zwei Schritte brauchte, um die nächste zu erreichen. Aber dann ging sie im Gegensatz zu den anderen einfach weiter und starrte nicht beeindruckt nach oben die helle Masse der hoch aufragenden Burg an. Sie wollte das hinter sich bringen.

Die große, runde Eingangshalle wurde fast vollständig von einem Säulengang umschlossen. Doch die mit ihren Petitionen angetretenen Menschen drückten sich in der Mitte ängstlich aneinander und schoben sich langsam unter der leicht gewölbten Decke vorwärts. Der helle Steinboden war durch die Jahrhunderte von unzähligen nervösen Füßen ausgetreten worden. Keiner konnte an etwas anderes denken, als daran, wo sie sich befanden und warum. Ein Bauer und seine Frau, beide in grober Wollkleidung, hatten sich an den schwieligen Händen gefaßt und standen Schulter an Schulter mit einer Kauffrau im Seidenkleid mit Samtbesatz, und ihnen wieder folgte eine Zofe mit einem kleinen silberbeschlagenen Kästchen in den verkrampften Händen, das sie wahrscheinlich als Geschenk ihrer Herrin in die Burg bringen sollte. In anderer Umgebung hätte die Kauffrau sicher auf dieses Bauernvolk herabgesehen, das sich so nahe herandrängte, und sie hätten wahrscheinlich entschuldigend die Hände an die Stirn gehoben und sich vor ihr zurückgezogen. Aber nicht jetzt. Nicht hier.

Unter den Bittstellern waren nur wenige Männer, was Min aber nicht weiter überraschte. Die meisten Männer hielten es in der Umgebung einer Aes Sedai einfach nicht aus. Jeder wußte ja, daß damals, als es noch männliche Aes Sedai gab, gerade die für die Zerstörung der Welt verantwortlich gewesen waren. Dreitausend Jahre hatten die Erinnerung daran nicht verblassen lassen, wenn auch der zeitliche Abstand viele Einzelheiten verändert hatte. Die Kinder wurden immer noch eingeschüchtert, indem man ihnen von Männern erzählte, die die Eine Macht benützen konnten, Männer, die dazu verflucht waren, durch das vom Dunklen König befleckte Saidin, die männliche Hälfte der Wahren Quelle, zum Wahnsinn getrieben zu werden. Am schlimmsten war die Geschichte von Lews Therin Telamon, dem Drachen, Lews Therin Brudermörder, der die Zerstörung eingeleitet hatte. Was das betraf, packte auch die Erwachsenen bei dieser Geschichte das kalte Grauen. Es war prophezeit worden daß der Drache in der schlimmsten Stunde der Not wiedergeboren würde, um in Tarmon Gai'don, der Letzten Schlacht, gegen den Dunklen König zu kämpfen, aber das änderte wenig daran, wie die Menschen die Verbindung von Männern mit der Einen Macht betrachteten. Jede Aes Sedai jagte nun gnadenlos jeden Mann, der die Macht lenken konnte, und unter den sieben Ajahs waren es besonders die Roten, die kaum je etwas anderes taten.

Natürlich war es noch immer so, daß man sich an die Aes Sedai wandte, wenn man ihre Hilfe brauchte, aber nur wenige Männer konnten sich darüber hinwegsetzen, auf irgendeine Art mit den Aes Sedai und der Macht in Verbindung zu treten. Eine Ausnahme bildeten natürlich die Behüter, aber jeder von ihnen war durch einen Eid an eine Aes Sedai gebunden und konnte wohl kaum mit den anderen Männern in einen Topf geworfen werden. Es gab ein Sprichwort: »Ein Mann wird eher den eigenen Kopf abschneiden, um einen Splitter loszuwerden, als eine Aes Sedai um Hilfe zu bitten.« Frauen sagten das, wenn sie die Dummheit der Männer betonen wollten, aber Min hatte von einigen Männern gehört, daß es immer noch besser sei, eine Hand loszuwerden...

Sie fragte sich, was diese Menschen wohl tun würden, wenn sie wüßten, was sie wußte. Vielleicht schreiend davonrennen? Und wenn sie den Grund kannten, der sie hierher führte, würde sie wohl nicht einmal mehr lange genug überleben, um von der Burgwache verhaftet und ins Verlies geworfen zu werden. Sie hatte Freundinnen in der Burg, doch keine mit Macht oder Einfluß. Wenn man von ihrer Absicht erfuhr, würden sie kaum Gelegenheit haben, ihr zu helfen. Im Gegenteil, vermutlich würden sie zusammen mit ihr dem Henker ausgeliefert — falls sie überhaupt lange genug am Leben bliebe, um noch vernommen oder vor einen Richter gestellt zu werden. Die Wahrscheinlichkeit war größer, daß ihr Mund lange vorher für immer verstummen würde.

Sie sagte sich, daß sie aufhören müsse, an so etwas auch nur zu denken. Ich komme hinein, und ich werde auch wieder herauskommen. Licht, verseng Rand al'Thor dafür, daß er mich in diese Lage gebracht hat!

Drei oder vier Aufgenommene, junge Frauen in Mins Alter, schritten von einem zum anderen durch den runden Raum und sprachen leise mit den Bittstellern. Ihre weißen Kleider wiesen keinen Zierrat auf, bis auf die sieben Farbbänder am Saum, von denen jedes die Farbe einer Ajah repräsentierte. Von Zeit zu Zeit erschien eine Novizin, ein Mädchen oder eine junge Frau ganz in Weiß, und führte jemanden weiter in die Burg hinein. Die Bittsteller folgten immer diesen Novizinnen mit einer eigenartigen Mischung von erregtem Eifer und ängstlichem Zögern.

Min ergriff ihr Bündel noch fester, als eine der Aufgenommenen vor ihr stehenblieb. »Das Licht erleuchte Euch«, sagte die Frau mit dem Lockenkopf in geschäftsmäßigem Tonfall. »Ich heiße Faolain. Wie kann Euch die Burg behilflich sein?« Auf Faolains dunklem runden Gesicht stand deutlich die Geduld eines Menschen geschrieben, der eine anstrengende Arbeit erledigt, obwohl er viel lieber etwas anderes täte. Vielleicht studieren; das konnte sich Min bei einer Aufgenommenen gut vorstellen. Lernen, um selbst eine Aes Sedai zu werden. Wichtiger für sie war aber, daß die Aufgenommene sie offensichtlich nicht erkannte. Die beiden hatten sich bei Mins früherem Aufenthalt in der Burg kennengelernt, wenn auch nur flüchtig.

Trotzdem senkte Min in gespielter Unterwürfigkeit den Kopf. Das war nicht unnatürlich; viele Leute vom Land verstanden nicht, daß es von einer Aufgenommenen bis zur Aes Sedai noch ein Riesenschritt war. Hinter der Kante ihrer Kapuze war ihr Gesicht gut verborgen, und sie blickte auch noch von Faolain weg.

»Ich habe eine Frage an die Amyrlin selbst«, begann sie, und dann hörte sie mit einemmal mit Sprechen auf, als drei Aes Sedai gleichzeitig innehielten, um einen Blick in die Halle zu werfen; zwei standen unter einem Bogen und eine weitere etwas abseits.

Aufgenommene und Novizinnen knicksten, wenn sie an einer der Aes Sedai vorbeikamen, ließen sich aber ansonsten nicht in ihrer Beschäftigung stören. Sie bewegten sich höchstens ein bißchen schneller. Das war alles. Aber nicht für die Bittsteller. Die schienen alle auf einmal nach Luft zu schnappen. Außerhalb der Weißen Burg, außerhalb Tar Valons, hätten sie vielleicht die Aes Sedai nur für drei Frauen gehalten, deren Alter schwer einzuschätzen war, drei Frauen in der Blüte ihrer Jahre, wenn auch etwas reifer, als ihre roten Wangen erkennen ließen. In der Burg aber gab es keinen Zweifel. Eine Frau, die sehr lange mit der Einen Macht gearbeitet hat, wurde von der Zeit nicht in demselben Maße gezeichnet wie andere Frauen. In der Burg mußte niemand erst nach einem goldenen Ring mit der Großen Schlange Ausschau halten, um eine Aes Sedai zu erkennen.

Eine Welle von Knicksen ging durch die Ansammlung, und die wenigen anwesenden Männer verbeugten sich steif. Zwei oder drei Leute fielen sogar auf die Knie nieder. Die reiche Kauffrau blickte erschrocken drein, während das Bauernpaar an ihrer Seite mit großen Augen lebende Legenden betrachtete. Wie man mit einer Aes Sedai umging, wußten die meisten nur vom Hörensagen. Es war unwahrscheinlich, daß irgend jemand von den Anwesenden, außer jenen, die in Tar Valon wohnten, schon jemals eine Aes Sedai gesehen hatte, und möglicherweise waren auch die wenigen Bewohner Tar Valons ihnen noch nie so nahe gekommen.

Aber es waren nicht die Aes Sedai selbst, die Min zum Schweigen brachten. Manchmal, wenn auch nicht oft, sah sie Dinge um Menschen herum, die sie anblickte, Bilder und Auren, die gewöhnlich aufflackerten und Augenblicke später wieder verschwunden waren. Gelegentlich war ihr klar, was sie bedeuteten. Dieses Wissen kam ihr nur selten — viel seltener, als sie solche Dinge sah —, aber wenn ihr etwas klar geworden war, hatte sie immer recht damit.