Der Häuptling sah vor sich nieder und antwortete nach einer Weile:»Du hast die Wahrheit gesagt; aber die Bleichgesichter drängen von allen Seiten auf uns ein; sie überschwemmen uns, und der rote Mann ist verurteilt, eines langsamen und qualvollen Erstickungstodes zu sterben. Ist es da nicht besser für ihn, den Kampf so zu führen, daß er rascher stirbt und rascher vernichtet wird? Der Blick, welchen du mir in die Zukunft öffnest, kann mich nicht abhalten, sondern mich nur darin bestärken, das Kriegsbeil ohne Gnade und Rücksicht zu gebrauchen. Gib dir also keine Mühe; es bleibt bei dem, was ich gesagt habe.«
«Daß ihr uns also am Marterpfahle sterben lassen wollt?«
«Ja. Ergibst du dich in das Schicksal, welches dir meine Worte bezeichneten?«
«Ja, «antwortete Old Shatterhand mit solcher Ruhe, daß der Rote schnell rief:»So liefert eure Waffen ab!«
«Das werden wir freilich nicht thun!«
«Aber du sagst ja, daß du dich ergeben willst!«erklang es im Tone der Verwunderung.
«Allerdings, nämlich in das Schicksal, welches uns durch deine Worte verkündet wird. Was aber hast du gesagt? Daß ihr jedes Bleichgesicht, welches in eure Hände fällt, töten werdet. Oder ist es nicht so?«
«Ja, so waren meine Worte, «nickte der Rote, darauf gespannt, was Old Shatterhand darauf vorbringen werde.
«Gut, so tötet uns, wenn wir in eure Hände gefallen sind, was aber bis jetzt noch nicht geschehen ist.«
«Uff! Glaubst du uns etwa zu entkommen?«
«Allerdings.«
«Das ist unmöglich. Weißt du, wie viele Krieger ich bei mir habe? Es sind ihrer zweihundert!«
«Bloß? Vielleicht hast du dir erzählen lassen, daß schon größere Horden sich vergeblich die Mühe gegeben haben, mich zu fangen oder festzuhalten.«
«Aber zweihundert und ihr nur vier! Es ist keine Lücke vorhanden, durch welche ihr entschlüpfen könntet!«
«So werden wir uns eine Lücke machen!«
«Ihr würdet dabei getötet werden!«
«Möglich! Aber wie viele deiner Krieger würdest du dabei einbüßen! Ich rechne auf jeden meiner Gefährten wenigstens zwanzig und ich selbst werde gewiß viel mehr als fünfzig erschießen, ehe ihr mich in eure Hände bekommt.«
Er sagte das mit einer solchen Zuversicht, daß der Rote ihn erstaunt anschaute. Dann stieß der letztere ein rauhes Lachen hervor und sagte, indem er die Hand geringschätzend auf und nieder bewegte:»Die Gedanken deines Kopfes verwirren sich. Du bist ein kühner Jäger, aber wie könntest du fünfzig Krieger erlegen?«
«Mit Leichtigkeit. Hast du noch nicht erfahren, was für Waffen ich besitze?«
«Du sollst ein Gewehr besitzen, aus welchem man immerfort schießen kann, ohne ein einziges Mal laden zu müssen; aber das ist eine Unmöglichkeit, ich glaube es nicht.«
«Soll ich es dir zeigen?«
«Ja, zeige es!«rief der Häuptling, ganz elektrisiert von dem Gedanken, dieses geheimnisvolle Gewehr, an welches sich so viele Sagen knüpften, sehen zu können.
«So werde ich es mir geben lassen und es dir bringen.«
Er stand auf und schritt zum Felsen, um den Stutzen zu holen. Wie die Verhältnisse lagen, mußte er vor allen Dingen danach trachten, die Indianer trotz ihrer Überzahl einzuschüchtern und bestürzt zu machen, und dazu war dieses Gewehr am besten geeignet. Er wußte, welche und wie viele Sagen über dasselbe unter den Roten kursierten. Sie hielten es für eine Zauberflinte, welche der» große Manitou «dem Jäger gegeben habe, um denselben unüberwindlich zu machen. Jemmy langte sie ihm von dem Felsen herab; er kehrte zu dem Häuptling zurück, hielt sie ihm hin und sagte:»Hier ist das Gewehr; nimm es, und siehe es dir an!«
Schon streckte der Rote die Hand aus; aber er zog sie wieder zurück und fragte:»Darf denn auch ein andrer als du es angreifen? Wenn es wirklich das Zaubergewehr ist, so muß es jedem, dem es nicht gehört, Gefahr bringen, sobald er es berührt.«
Diese vorteilhafte Ansicht mußte Old Shatterhand ausbeuten. Mußte er sich mit seinen Begleitern den Roten ergeben, so war er mit ihnen jedenfalls gezwungen, die Waffen alle auszuliefern. In diesem Falle kam es sehr darauf an, wenigstens dieses eine Gewehr behalten zu können. Eine direkte Lüge wollte Old Shatterhand zwar nicht sagen, aber er antwortete:»Ich darf die Geheimnisse desselben nicht mitteilen. Nimm, und versuche es selbst!«
Er hatte den Stutzen in der rechten Hand und legte bei diesen Worten den Daumen an die Patronenkugel, um durch eine kleine, ganz unbemerkbare Bewegung dieselbe so vorzudrehen, daß der Schuß bei der geringsten Berührung derselben losgehen mußte. Sein scharfes Auge bemerkte eine Gruppe von mehreren Roten, welche aus Neugierde ihre geschützten Stellungen verlassen hatten und nun nahe dem Rande der Lichtung bei einander standen. Diese Gruppe bildete ein so gutes Ziel, daß eine auch nicht ganz genau auf sie gerichtete Kugel einen von ihnen treffen mußte. Jetzt kam es darauf an, ob der Häuptling das Gewehr ergreifen werde oder nicht. Er war wohl weniger abergläubisch als die andern Roten, aber er traute der Sache doch nicht ganz.»Soll ich, oder soll ich nicht?«Diese beiden Fragen waren in seinen begierig auf das Gewehr gerichteten Augen zu lesen. Old Shatterhand nahm es jetzt mit beiden Händen, hielt es ihm näher und zwar so, daß der Lauf genau nach der erwähnten Indianergruppe zeigte. Die Neugierde des Häuptlings war doch größer als seine Besorgnis; er griff zu. Old Shatterhand spielte ihm das Gewehr so in die Hand, daß dieselbe die Kugel berührte. Sofort krachte der Schuß — drüben, wo die Indianer standen, ertönte ein Schrei und der» große Wolf «ließ den Stutzen erschrocken fallen. Einer der Roten rief herüber, daß er verwundet worden sei.
«Bin ich's gewesen, der ihn verwundet hat?«fragte der Häuptling betroffen.
«Wer sonst?«antwortete Old Shatterhand.»Das ist nur erst zur Warnung geschehen. Bei der nächsten Berührung dieses Gewehres wird es aber Ernst werden. Ich erlaube dir, es wieder anzufassen, aber ich warne dich; die Kugel würde nun — «
«Nein, nein!«rief der Rote, indem er mit beiden Händen abwehrte.»Es ist wirklich ein Zaubergewehr und nur für dich bestimmt. Wenn ein andrer es nimmt, so geht es los und er trifft seine eigenen Freunde, vielleicht gar sich selbst. Ich mag es nicht; ich mag es nicht!«
«Das ist sehr klug von dir, «meinte Old Shatterhand in ernstem Tone.»Sei froh, daß es jetzt nur einmal losgegangen ist. Du hast nur eine kleine Lehre erhalten; das nächste Mal würde es anders kommen. Ich werde dir zeigen, wie oft es losgeht. Schau nach dem Ahornbäumchen dort am Bache. Es ist nur zwei Finger stark und soll zehn Löcher erhalten, welche genau die Breite deines Daumens voneinander entfernt sind.«
Er hob den Stutzen auf, legte ihn an, zielte auf den Ahorn und drückte ein — drei — sieben — zehnmal ab. Dann sagte er:»Gehe hin, und siehe es! Ich könnte noch viele, viele Male schießen, aber es ist ja genug, um dir zu zeigen, daß ich in einer Minute fünfzig von deinen Kriegern in das Herz treffen könnte, wenn ich wollte.«
Der Häuptling ging zum Bäumchen. Old Shatterhand sah, daß er die Entfernungen der Löcher mit dem Daumen maß. Mehrere Rote kamen, von der Wißbegierde getrieben, aus ihren Verstecken hervor und zu ihm hin. Dies benutzte der Jäger, um schnell neue Patronen in die sich exzentrisch bewegende Kugel zu schieben.
«Uff, uff, uff!«hörte er rufen. War es für die Indianer schon ein wirkliches Wunder, daß er so viele Schüsse abgegeben hatte, ohne zu laden, so waren sie jetzt doppelt erstaunt, zu sehen, daß nicht nur keine Kugel fehlgegangen war, sondern jede das dünne Stämmchen genau einen Daumen breit über der vorigen durchschlagen hatte. Der Häuptling kehrte zurück, setzte sich wieder nieder und forderte den Jäger durch eine Handbewegung auf, seinem Beispiele zu folgen. Er sah eine ganze Weile schweigend vor sich nieder und sagte dann:»Ich sehe, daß du ein Liebling des großen Geistes bist. Ich habe von diesem Gewehre gehört, es aber nicht glauben können. Nun weiß ich, daß man die Wahrheit gesagt hat.«