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Er fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock und ging sofort in sein Büro, wo er eine Messinglampe mit Scherengelenkarm anknipste. Nachdem er Trenchcoat und Überschuhe abgelegt hatte, holte er mehrere Schnellhefter aus dem Aktenschrank und legte sie aufge schlagen auf seinen Schreibtisch, um die Illusion zu erzeugen, hier werde gearbeitet. Für den unwahrscheinlichen Fall, daß einer seiner Kollegen mitten in der Nacht ins Institut kam, mußte alles getan werden, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.

Danach stieg Stefan mit seinem Koffer und einer mitgebrachten Taschenlampe in den dritten Stock und weiter zum Dachboden hinauf. Das Licht der Taschenlampe zeigte ihm mächtige Balken, aus denen da und dort schlecht eingeschlagene Nägel ragten. Obwohl der Raum unter dem Dach einen Fußboden aus gehobelten Dielen hatte, wurde er nicht als Speicher benützt und war leer bis auf etliche Spinnweben und eine alles bedeckende graue Staubschicht. Der Dachstuhl war in der Mitte so hoch, daß Stefan aufrecht stehen konnte; an den Seiten wurde die Konstruktion jedoch so niedrig, daß man sich nur mehr auf allen vieren fortbewegen konnte.

So dicht unter dem Ziegeldach erinnerte das stete Trommeln des Regens an das gleichmäßige Gebrumm endloser Bomberformationen, die die Stadt überflogen. Dieser Vergleich drängte sich Stefan vielleicht deswegen auf, weil er der festen Überzeugung war, es sei das unvermeidliche Schicksal dieser Stadt, dem Erdboden gleichgemacht zu werden.

Er klappte den Koffer auf. Mit den flinken, geschickten Fingern des Sprengmeisters brachte er die ziegelförmigen Ladungen Plastiksprengstoff so an, daß sie bei der Zündung nach innen und unten wirken würden. Die Detonation durfte nicht nur das Dach absprengen, sondern mußte auch das oberste Geschoß zum Einsturz bringen, damit die Masse aus Balken, Dachziegeln und Mauertrümmern weitere Schäden anrichtete. Stefan brachte die Ladungen in den hintersten Winkeln des Dachstuhls an und stemmte sogar einige Bodenbretter hoch, um darunter Sprengstoff zu verstecken.

Draußen ließ das Gewitter kurz nach. Aber wenig später grollte der Donner noch böser durch die Nacht, und es regnete heftiger als zuvor. Auch der bisher nicht aufgetretene Wind setzte nun ein und wurde bald zum Sturm, der um die Giebel heulte und die Stadt mit seltsam hohler Stimme gleichzeitig zu bedrohen und zu betrauern schien.

Die Kälte auf dem ungeheizten Dachboden setzte Stefan so zu, daß seine Hände bei der heiklen Arbeit immer mehr zitterten. Obwohl er fror, stand ihm der Schweiß auf der Stirn.

Er versah jede Sprengladung mit einer Zündkapsel, deren Zuleitungen in die Nordwestecke des Dachbodens führten. Dort flocht er die Litzen zu einem Kabel zusammen, das er in einen Lüftungsschacht hinabließ, der bis in den Keller hinunterreichte.

Die Sprengladungen und ihre Zündleitungen waren so unauffällig wie möglich angebracht und würden nicht bemerkt werden, wenn jemand die Dachbodentür bloß öffnete, um sich hier oben rasch umzusehen. Bei genauerer Untersuchung oder wenn man den Dachboden als Speicher benutzte, würden die Drähte und der Plastiksprengstoff jedoch sicher entdeckt werden.

In den folgenden 24 Stunden durfte niemand hier heraufkommen. Angesichts der Tatsache, daß Stefan in den letzten Monaten der einzige gewesen war, der den Dachboden betreten hatte, war das nicht zuviel verlangt.

Morgen würde er mit einem weiteren Koffer kommen und die Sprengladungen im Keller anbringen. Gleichzeitige Detonationen oben und unten waren das einzig sichere Mittel, das Institutsgebäude - und alles, was es enthielt - in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Die Sprengung und der dadurch entstehende Brand durften keine Unterlagen übriglassen, die eine Fortsetzung des hier betriebenen gefährlichen Forschungsprojekts erlaubten.

Obwohl die Sprengladungen genau berechnet und sorgfältig plaziert worden waren, würden auch die umliegenden Gebäude in Mitleidenschaft gezogen werden, und es war zu befürchten, daß auch schuldlose Unbeteiligte ums Leben kamen. Aber das ließ sich nicht vermeiden. Er wagte nicht, weniger Sprengstoff zu verwenden, denn falls nicht sämtliche Unterlagen des Instituts vernichtet wurden, konnte die Arbeit am Projekt rasch wiederaufgenommen werden. Und dieses Projekt mußte schnellstens gestoppt werden, weil davon das Heil der Menschheit abhing. Sollten dabei auch Unbeteiligte umkommen, würde er mit dieser Schuld leben müssen.

Nach zwei Stunden, wenige Minuten nach drei Uhr, war er mit seiner Arbeit auf dem Dachboden fertig.

Er kehrte in sein Büro im zweiten Stock zurück und blieb eine Weile hinter dem Schreibtisch sitzen. Er wollte nicht gehen, bevor sein schweißnasses Haar wieder trocken war und er nicht mehr zitterte. Viktor durfte nichts merken.

Stefan schloß die Augen und rief sich Lauras Gesicht ins Gedächtnis zurück. Der Gedanke an sie beruhigte ihn stets. Allein die Tatsache ihrer Existenz verlieh ihm Mut und inneren Frieden.

4

Bob Shanes Freunde wollten ursprünglich nicht, daß Laura an der Beerdigung ihres Vaters teilnähme. Sie fanden, einer Zwölfjährigen solle dieses traumatische Erlebnis erspart bleiben. Laura bestand jedoch darauf, und wenn sie etwas so unbedingt wollte, konnte niemand sie davon abbringen.

Dieser Montag, der 24. Juli 1967, war der schlimmste Tag ihres Lebens - noch schmerzlicher als der vorangegangene Montag, an dem ihr Vater gestorben war. Der erste Schock mit seiner betäubenden Wirkung war zum Teil abgeklungen, Laura fühlte sich nicht mehr so stumpf und benommen. Ihre Gefühle lagen näher an der Oberfläche und waren weniger leicht zu beherrschen. Sie begann allmählich zu begreifen, was sie verloren hatte.

Da sie kein schwarzes Kleid hatte, entschied sie sich für ihr dunkelblaues. Dazu trug sie schwarze Schuhe und blaue Sok-ken. Die Socken machten ihr Kopfzerbrechen, weil sie ihr kindlich, fast frivol vorkamen. Da sie jedoch noch nie Nylonstrümpfe getragen hatte, hielt sie es für unpassend, damit anläßlich einer Beerdigung anzufangen. Sie rechnete damit, daß ihr Vater während des Gottesdienstes aus dem Himmel herabschauen würde, und wollte so aussehen, wie er sie in Erinnerung hatte. Hätte er sie in Nylonstrümpfen gesehen - als kleines Mädchen, das krampfhaft erwachsen wirken wollte -, hätte er sich ihrer vielleicht geschämt.

In der Einsegnungshalle saß Laura in der ersten Reihe zwischen Cora Lance, der Besitzerin eines Frisiersalons in der Nähe von Shanes Laden, und Anita Passadopolis, die in der St. Andrew’s Presbyterian Church als Sozialarbeiterin mit Bob zusammengearbeitet hatte. Beide Frauen waren Mitte Fünfzig: großmütterliche Erscheinungen, die Laura beruhigend tätschelten und sie besorgt im Auge behielten.

Um Laura hätten sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Sie dachte nicht daran, hemmungslos zu weinen, hysterisch zu werden oder sich die Haare zu raufen. Sie begriff, daß der Tod unvermeidlich war. Jeder mußte irgendwann sterben. Menschen starben, Hunde starben, Katzen starben, Vögel starben, Blumen starben. Sogar die uralten Sequoien starben früher oder später, obwohl sie zwanzig- oder dreißigmal länger lebten als ein Mensch, was eigentlich unfair war. Andererseits war es bestimmt viel langweiliger, ein Jahrtausend lang als Baum zu leben, als nur 42 Jahre als glücklicher Mensch zu existieren. Mit 42 Jahren war ihr Vater noch viel zu jung gewesen, als sein Herz plötzlich versagt hatte. Aber das war eben der Lauf der Welt, der sich auch durch Tränen nicht ändern ließ. Laura war stolz darauf, wie vernünftig sie alles sah.