Выбрать главу

»Oh, mir gefallen manche ganz gut«, sagte Ruth.

»Lauter Filme, in denen nie, nie jemand in die Luft gesprengt wird. Und nie welche mit Sauereien. Wir kriegen nie einen Film zu sehen, in dem ein Kerl einem Mädchen an die Titten greift. Ja, Familienstorys. Öde, nichts als öde.«

»Du mußt meiner Schwester verzeihen«, sagte Ruth zu Laura. »Sie bildet sich ein, schon in der Pubertät zu sein, und ...«

»Ich stehe am Rand der Pubertät! Ich spüre, wie meine Säfte steigen!« rief Thelma aus und reckte einen ihrer dünnen Arme hoch in die Luft.

»Der Mangel an elterlicher Führung hat ihr doch geschadet, fürchte ich«, behauptete Ruth. »Sie hat sich dem Waisendasein nicht gut angepaßt.«

»Du mußt meine Schwester entschuldigen«, warf Thelma ein. »Sie hat beschlossen, die Pubertät zu überspringen und von der Kindheit direkt zur Senilität überzugehen.«

»Was ist mit Willy Sheener?« fragte Laura.

Die Ackerson-Zwillinge tauschten einen wissenden Blick und redeten dann abwechselnd so rasch, daß keine Sekunde zwischen ihren Aussagen ungenutzt blieb. »Ach, ein Gestörter«, sagte Ruth, und Thelma sagte: »Ein Dreckskerl«, und Ruth sagte: »Er braucht eine Therapie«, und Thelma sagte: »Nein, dem müßte man einen Baseballschläger ein, vielleicht zwei dutzendmal über den Kopf schlagen und ihn dann für den Rest seines Lebens einsperren.«

Laura berichtete, wie Sheener plötzlich auf der Schwelle ihres Zimmers gestanden hatte.

»Er hat also nichts gesagt?« fragte Ruth. »Das ist merkwürdig. Normalerweise sagt er >Du bist ein sehr hübsches kleines Mädchen< oder ...«

». er bietet einem Süßigkeiten an.« Thelma verzog das Gesicht. »Kannst du dir das vorstellen? Süßigkeiten! Wie einfallslos! Man könnte meinen, er habe sich seine Dreckskerlmanieren aus den Heftchen angeeignet, die die Polizei verteilt, um Kinder vor Sexualverbrechern zu warnen.«

»Keine Süßigkeiten«, sagte Laura und erschauderte, als sie an Sheeners in der Sonne silbrig glänzende Augen und an sein schweres, rhythmisches Atmen dachte.

Thelma beugte sich vor und senkte ihre Stimme zu einem lauten Flüstern wie auf der Bühne. »Anscheinend hat’s dem Weißen Aal die Sprache verschlagen, und er war so geil, daß ihm seine üblichen Sprüche gar nicht eingefallen sind. Vielleicht ist er besonders scharf auf dich, Laura.«

»Weißer Aal?«

»Das ist Sheener«, erklärte Ruth ihr. »Oder einfach nur der Aal.«

»Bleich und glitschig, wie er ist«, sagte Thema, »ist das der passende Spitzname. Ich möchte wetten, daß der Aal besonders scharf auf dich ist. Ich meine, Kleine, du bist ein Hammer.«

»Ich doch nicht!« wehrte Laura ab.

»Machst du Witze?« sagte Ruth. »Mit deinem dunklen Haar und den großen Augen .«

Laura wurde rot und wollte widersprechen, aber Thelma kam ihr zuvor. »Hör zu, Shane, das Ackerson-Duo - Ruth et moi -kann falsche Bescheidenheit ebensowenig vertragen wie Angeberei. Wir halten nichts von Süßholzgeraspel. Wir kennen unsere Stärken und sind stolz auf sie. Gott weiß, daß wir’s nie zur Miss America bringen werden, aber wir sind intelligent und genieren uns nicht, das zu sagen. Und du bist bildhübsch, deshalb hör auf, die spröde Schüchterne zu spielen!«

»Meine Schwester drückt sich manchmal zu direkt und drastisch aus«, entschuldigte sich Ruth.

»Und meine Schwester«, erklärte Thelma der Neuen, »probt für die Rolle der Melanie in Vom Winde verweht.« Sie imitierte einen breiten Südstaatenakzent und sprach mit übertriebenem Pathos: »Oh, Scarlett hat’s nicht so gemeint. Scarlett ist ein liebes Mädchen, das ist sie wirklich. Auch Rhett ist in seinem Innersten so lieb, und selbst die Yankees sind lieb, sogar diejenigen, die Tara ausgeplündert, unsere Äcker verbrannt und die Haut unserer Babys zu Stiefeln verarbeitet haben.«

Laura begann zu kichern, lange bevor Thelmas Vorführung zu Ende war.

»Also spiel nicht länger die Schüchterne, Shane! Du bist bildhübsch.«

»Okay, okay. Ich weiß, daß ich ... hübsch bin.«

»Also, Kleine, als der Weiße Aal dich gesehen hat, ist bei ihm ‘ne Sicherung durchgebrannt.«

»Richtig«, bestätigte Ruth, »du hast ihn verwirrt. Deshalb hat er nicht mal daran gedacht, die Süßigkeiten rauszuholen, die er immer in der Tasche hat.«

»Süßigkeiten!« sagte Thelma. »Kleine Säckchen M&Ms, Tootsie Rolls!«

»Laura, sei bloß vorsichtig«, warnte Ruth leise. »Er ist krank .«

»Er ist ein Widerling!« stellte Thelma fest. »Eine Kanalratte!«

Aus der entferntesten Ecke des Raums kam Tammys sanfte Stimme: »Er ist nicht so schlecht, wie ihr behauptet.«

Das blonde Mädchen war so still, so schmächtig und farblos, so geschickt darin, sich im Hintergrund zu verlieren, daß Laura nicht mehr an sie gedacht hatte. Jetzt sah sie, daß Tammy ihr Buch weggelegt und sich im Bett aufgesetzt hatte; sie hatte ihre knochigen Knie bis zur Brust hochgezogen und umschlang sie mit beiden Armen. Sie war zehn, um zwei Jahre jünger als ihre Zimmergenossinnen, und klein für ihr Alter. In ihrem weißen Nachthemd und mit den weißen Socken sah Tammy eher wie ein Gespenst aus als wie ein richtiger Mensch.

»Er würde niemandem was antun«, sagte Tammy zögernd, mit leicht bebender Stimme, als komme eine Meinungsäußerung über Sheener - über irgend etwas, irgend jemand - einem Drahtseilakt ohne Netz gleich.

»Er würde jemandem was antun, wenn er nicht Angst hätte, erwischt zu werden«, widersprach Ruth.

»Er ist bloß ...« Tammy biß sich auf die Unterlippe. »Er ist ... einsam.«

»Nein, Schätzchen«, sagte Thelma, »er ist nicht einsam. Er liebt sich selbst so sehr, daß er nie einsam sein wird.«

Tammy wich ihrem Blick aus. Sie stand auf, schlüpfte in abgetretene Hausschuhe und murmelte: »Allmählich Zeit zum Schlafengehen.« Sie nahm ihren Toilettenbeutel vom Nachttisch, schlurfte hinaus, schloß die Tür hinter sich und machte sich auf den Weg zu einem der Bäder am Ende des Flurs.

»Sie nimmt seine Süßigkeiten«, erläuterte Ruth Laura.

Abscheu durchflutete Laura wie eine eisige Wolke. »Nein!«

»Doch«, sagte Thelma, »aber nicht, weil sie Süßigkeiten mag. Sie ist ... verkorkst. Sie braucht die Anerkennung des Aals.«

»Aber warum nur?« fragte Laura.

Ruth und Thelma wechselten einen weiteren ihrer Blicke, durch die sie strittige Punkte wortlos zu diskutieren und binnen weniger Sekunden eine Entscheidung zu fällen schienen. »Nun, weißt du«, antwortete Ruth seufzend, »Thelma mag diese Art Anerkennung, weil ... weil ihr Vater ihr beigebracht hat, sie zu mögen.«

Laura war entsetzt. »Ihr eigener Vater?«

»Nicht alle Kinder im McIllroy Home sind Waisen«, erklärte Thelma. »Manche sind hier, weil ihre Eltern Straftaten verübt haben und im Gefängnis sitzen. Und andere sind von Angehörigen mißhandelt oder ... sexuell mißbraucht worden.«

Die durch die offenen Fenster hereinströmende Nachtluft war vielleicht ein, zwei Grad kühler als vorhin, als die drei Mädchen sich auf den Teppich gesetzt hatten, aber sie erschien Laura wie ein kalter Herbstwind, der auf rätselhafte Weise Raum und Zeit überwunden hatte und in diese Augustnacht vorgestoßen war.

»Aber Tammy mag das doch nicht wirklich?« fragte Laura.

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Ruth. »Aber für sie ist das .«

». zwanghaft«, warf Thelma ein. »Sie kann nicht anders. Mit einem Wort: verkorkst.«