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Die drei schwiegen und dachten das Undenkbare, bis Laura schließlich sagte: »Seltsam und ... so traurig. Können wir nichts dagegen unternehmen? Könnten wir nicht Mrs. Bowmaine oder eine der anderen Sozialarbeiterinnen über Sheener aufklären?«

»Das wäre zwecklos«, wehrte Thelma ab. »Der Aal würde alles leugnen, und Tammy würde es ebenfalls abstreiten. Und wir haben keinerlei Beweise.«

»Aber wenn sie nicht das einzige Mädchen ist, das er mißbraucht hat, könnte doch eine der anderen .«

Ruth schüttelte den Kopf. »Die meisten leben inzwischen bei Pflege- oder Adoptiveltern oder sind wieder zu Hause. Die zwei oder drei, die noch da sind ... nun, die sind entweder wie Tammy, oder sie haben schreckliche Angst vor dem Aal -zuviel Angst, um ihn zu verpetzen.«

»Außerdem«, sagte Thelma, »wollen die Erwachsenen nichts davon wissen, wollen sich nicht damit befassen müssen. Das Heim könnte in die Schlagzeilen geraten. Sie müßten sich fragen lassen, wie das alles vor ihrer Nase passieren konnte. Und seit wann kann man außerdem Kindern glauben?« Thelma imitierte Mrs. Bowmaine und traf ihren heuchlerischen Tonfall so genau, daß Laura sofort wußte, wer gemeint war. »Oh, meine Liebe, diese abscheulichen, lügenhaften kleinen Bestien! Aufsässige, boshafte, lästige kleine Teufel, die imstande wären, Mr. Sheeners ausgezeichneten Ruf nur so aus Spaß zu ruinieren. Wenn man sie nur ruhigstellen, an Wandhaken hängen und intravenös ernähren könnte, dann wäre unser System weit effektiver, meine Liebe - und für sie selbst wär’s auch viel besser.«

»Dann würde der Aal von allen Vorwürfen reingewaschen«, stellte Ruth fest. »Er käme hierher zurück und würde Mittel und Wege finden, sich an uns zu rächen, weil wir ihn verpetzt haben. So ähnlich ist’ s bei dem anderen Schwein gewesen, das früher hier gearbeitet hat - ein Kerl, den wir Frettchen Fogel genannt haben. Der arme Denny Jenkins ...«

»Denny Jenkins hat Frettchen Fogel verpetzt: Er beschwerte sich bei Bowmaine, Fogel habe ihn und zwei andere Jungen belästigt. Das Frettchen ist suspendiert worden. Aber die beiden anderen bestätigten Dennys Aussage nicht. Sie hatten Angst vor Fogel . waren auch von seiner perversen Anerkennung abhängig. Als Bowmaine und ihr Mitarbeiter Denny verhörten .«

»Sie haben ihn in die Mangel genommen!« unterbrach Ruth sie aufgebracht. »Sie haben ihm Fangfragen gestellt, um ihn reinzulegen. Er ist so durcheinander gewesen, daß er sich in Widersprüche verwickelt hat - daraufhin haben sie behauptet, er habe sich alles nur ausgedacht.«

»Und Fogel ist ins Heim zurückgekommen«, sagte Thelma.

»Der hat auf seine Chance gewartet«, fuhr Ruth fort, »und Denny dann das Leben zur Hölle gemacht. Er hat den Jungen erbarmungslos gequält, bis ... Denny eines Tages zu kreischen begonnen hat und nicht wieder aufhören konnte. Der Arzt hat ihm eine Spritze geben müssen, und Denny ist abtransportiert worden. Emotional gestört, haben sie gesagt.« Ruth war nahe daran, in Tränen auszubrechen. »Wir haben ihn nie wiedergesehen.«

Thelma legte ihrer Schwester eine Hand auf die Schulter. »Ruth hat Denny gern gehabt«, erklärte sie Laura. »Er ist ein netter Junge gewesen. Klein, schüchtern, lieb ... und völlig chancenlos. Deshalb darfst du dem Weißen Aal nichts durchgehen lassen. Er darf nicht merken, daß du dich vor ihm fürchtest. Sobald er aufdringlich wird, kreischt du. Und trittst ihm in die Eier.«

Tammy kam aus dem Bad zurück. Sie sah die anderen Mädchen nicht an, sondern streifte ihre Hausschuhe ab und schlüpfte wortlos unter die Bettdecke.

Obwohl die Vorstellung, Tammy gebe sich Sheener hin, Lauras Abscheu erregte, betrachtete sie die schmächtige Blondine eher mit Mitleid als mit Verachtung. Nichts verdiente mehr Erbarmen als dieses kleine, einsame, niedergeschlagene Mädchen in seinem schmalen Bett mit der durchgelegenen Matratze.

In dieser Nacht träumte Laura von Sheener. Er hatte einen Menschenkopf, aber den Körper eines Aals, und wohin Laura auch rannte, Sheener glitt hinter ihr her, wobei er sich unter geschlossenen Türen hindurchschlängelte und auch jedes andere Hindernis überwand.

2

Entsetzt von dem eben Gesehenen, war Stefan aus dem Hauptlabor des Instituts in sein Büro im zweiten Stock zurückgekehrt. Er saß an seinem Schreibtisch, stützte den Kopf in beide Hände und zitterte vor Angst, Wut und Abscheu.

Willy Sheener, dieser rothaarige Schweinehund, würde Laura wiederholt vergewaltigen, halb totschlagen und seelisch in einem Zustand zurücklassen, von dem sie sich nie mehr erholen würde. Das war nicht nur eine mögliche Entwicklung; sie würde ganz sicher eintreten, wenn Stefan nichts dagegen unternahm. Er hatte die Folgen gesehen: Lauras verschwollenes Gesicht, ihre aufgeplatzten Lippen und ausgeschlagenen Zähne. Das schlimmste waren ihre Augen gewesen, so trübe und ausdruckslos - die Augen eines Kindes, für das es weder Freude noch Hoffnung mehr gab.

Kalter Regen trommelte gegen die Bürofenster, und dieser Laut schien in ihm widerzuhallen, als hätten die entsetzlichen Dinge, die er gesehen hatte, ihn ausgehöhlt, als leere Hülle zurückgelassen.

Er hatte Laura im Lebensmittelgeschäft ihres Vaters vor dem Junkie gerettet, und nun trat schon der nächste Kinderschreck auf! Zu den Erfahrungen, die Stefan bei den Experimenten des Instituts gemacht hatte, gehörte auch, daß das Schicksal sich nicht so leicht ummodeln ließ. Es bemühte sich, den ursprünglich vorgesehenen Ablauf zu nehmen. Vielleicht war es Laura unabänderbar vorausbestimmt, vergewaltigt und psychisch kaputtgemacht zu werden. Möglicherweise konnte er gar nicht verhindern, daß das früher oder später eintrat. Vielleicht konnte er sie nicht vor Willy Sheener retten - oder, wenn er es tat, vielleicht erschien dann ein weiterer Vergewaltiger auf der Bildfläche. Aber er mußte es versuchen.

Diese toten, freudlosen Kinderaugen .

3

Im McIllroy Home waren 76 Kinder untergebracht, alle zwölf Jahre oder jünger, denn die 13jährigen wurden ins Jugendheim Caswell Hall in Anaheim überwiesen. Da der eichengetäfelte Speisesaal nur Platz für 40 Kinder bot, wurden die Mahlzeiten in zwei Schichten serviert. Laura gehörte ebenso wie die Ak-kerson-Zwillinge zur zweiten Schicht.

Als Laura an ihrem ersten Morgen im Heim zwischen Thelma und Ruth in der Cafeteria anstand, sah sie, daß Willy Sheener einer der vier war, die bei der Essensausgabe hinter der Theke standen. Er sorgte dafür, daß genügend Milch da war und gab mit einer Kuchenzange Cremeschnitten aus.

Während Laura in der Schlange vorrückte, konzentrierte der Aal sich mehr auf sie als auf die Kinder, die er zu bedienen hatte.

»Laß dich nicht von ihm einschüchtern!« flüsterte Thelma ihr zu.

Laura versuchte, Sheeners Blick - und seiner Herausforderung - kühn zu begegnen. Aber diese Blickduelle wurden jedesmal von ihr abgebrochen.

»Guten Morgen, Laura,« sagte er, als sie vor ihm stand, und legte ihr eine eigens für sie aufgehobene Cremeschnitte auf den Teller. Sie war fast doppelt so groß wie die anderen - mit mehr Maraschinokirschen und Zuckerguß darauf.

Am Donnerstag, ihrem dritten Tag im Heim, mußte Laura in Mrs. Bowmaines Büro im Erdgeschoß ein Wie-haben-wir-uns-denn-eingewöhnt-Gespräch mit der Sozialarbeiterin über sich ergehen lassen. Etta Bowmaine war korpulent und trug unvorteilhafte Kleider mit Blütendessins. Mit der schwatzhaften Unaufrichtigkeit, die Thelma so perfekt imitiert hatte, schwelgte sie in Gemeinplätzen und Platitüden und stellte eine Menge Fragen, die sie in Wirklichkeit gar nicht ehrlich beantwortet haben wollte. Laura schwindelte ihr vor, wie glücklich sie im McIllroy sei, und Mrs. Bowmaine freute sich sehr über ihre Lügen.

Auf dem Rückweg in ihr Zimmer im zweiten Stock begegne-te Laura auf der Nordtreppe dem Aal. Als sie um den zweiten Treppenabsatz bog, stand er auf den Stufen über ihr und polierte den Eichenholzhandlauf mit einem Lappen. Neben sich hatte er eine ungeöffnete Flasche Möbelpolitur stehen.