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Niemand brauchte zu fragen, von wem sie redete.

»Er will mich nicht mehr, niemand will mich mehr, er will mich nur, damit ich ihm helfe, dich zu kriegen. Laura, Laura, Laura. Er will, daß ich dich irgendwohin locke, wo er mit dir allein ist und wo es gefahrlos ist. Aber ich tu’s nicht, ich tu’s nicht! Was hätte ich davon, wenn er dich erst mal hat? Nichts.« Ihr Gesicht war rot wie eine Tomate. Schlimmer als ihre Wut war die dahinter stehende schreckliche Verzweiflung.

Laura stürzte aus dem Zimmer und hetzte über den langen Flur zu den Toiletten. Vor Angst und Ekel war ihr schlecht; sie sank auf den gesprungenen gelben Fliesen vor einer der WC-Schüsseln auf die Knie und übergab sich. Sobald ihr Magen leer war, trat sie ans Waschbecken, spülte sich mehrmals den Mund aus und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Als sie dann den Kopf hob und in den Spiegel blickte, kamen endlich die Tränen.

Der Grund für Lauras Tränen war weder ihre Angst noch ihre Einsamkeit. Sie weinte um Tammy. Diese Welt war eine wahre Hölle, wenn in ihr geschehen konnte, daß eine Zehnjährige so sehr entwürdigt wurde, daß die einzige Anerkennung die ihr je von einem Erwachsenen zuteil geworden war, aus dem Munde des Irren kam, der sie mißbraucht hatte, und wenn der einzige Besitz, auf den sie stolz sein konnte, ihr schmächtiger, noch nicht gereifter Körper als Sexualobjekt war.

Laura erkannte, daß Tammy sich in weit schlimmerer Lage befand als sie selbst. Sogar ohne ihre Bücher hatte Laura noch schöne Erinnerungen an einen sanften, freundlichen, liebevollen Vater, wie Tammy nie einen gekannt hatte. Hätte man Laura ihre wenigen Habseligkeiten genommen, sie wäre noch immer psychisch gesund gewesen, während Tammy psychisch krank war - vielleicht sogar unheilbar krank.

4

Sheener wohnte in Santa Ana in einer ruhigen Nebenstraße in einem Bungalow. Dieses Viertel gehörte zu den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen: hübsche kleine Häuser mit interessanten baulichen Details. In diesem Sommer 1967 waren die verschiedenen Arten Feigenbäume bereits ausgewachsen und breiteten ihre Zweige schützend über die Häuser, darüber hinaus war Sheeners Haus von hohen Stauden umgeben -Azaleen, Eugenien und rotblühenden Hibisken.

Kurz vor Mitternacht sperrte Stefan den Hintereingang mit einem Plastikdietrich auf und betrat Sheeners Haus. Während er den Bungalow inspizierte, schaltete er überall frech das Licht ein und machte sich nicht einmal die Mühe, die Vorhänge zuzuziehen.

Die Küche war mustergültig sauber. Die blauen Kunststoffplatten der Arbeitsflächen glänzten fleckenlos. Die Chromgriffe der Küchengeräte, der Wasserhahn am Ausguß und die Metallgestelle der Küchenstühle glitzerten, ohne durch einen einzigen Fingerabdruck entstellt zu sein.

Er öffnete den Kühlschrank, ohne recht zu wissen, was er darin zu finden erwartete. Vielleicht einen Hinweis auf Willy Sheeners gestörte Psyche - ein früheres Opfer, das er ermordet und eingefroren hatte, um es als perverses Andenken aufzubewahren? Aber der Kühlschrank enthielt nichts Dramatisches in dieser Art. Andererseits war unverkennbar, daß der Mann pedantisch ordnungsliebend war. Für alle Lebensmittel hatte er in Farbe und Form einheitliche Tupperware-Behälter.

Ansonsten war das einzig Auffällige am Inhalt des Kühlschranks und der Hängeschränke, daß Süßigkeiten überwogen: Biskuits, Schokolade, Eiscreme, Kekse, Bonbons, Kuchen, Pralinen, Krapfen, Pudding und andere Süßspeisen. Auch neu eingeführte Produkte wie Buchstaben-Spaghetti und Dosen mit Gemüsesuppe, deren Nudeln wie bekannte Comicfiguren aussahen, waren reichlich vertreten. Man hätte glauben können, Sheeners Vorräte seien von einem Kind ohne Beaufsichtigung durch einen Erwachsenen eingekauft worden.

Stefan bewegte sich ins Innere des Hauses weiter.

5

Die Auseinandersetzung wegen der zerfetzten Bücher genügte, um Tammy den letzten Rest Lebensmut zu nehmen. Sie sprach nicht mehr von Sheener und schien Laura nicht länger feindselig gegenüberzustehen. Tag für Tag zog sie sich mehr in sich zurück, senkte vor jedermann den Blick und ließ den Kopf immer tiefer hängen; ihre Stimme wurde noch leiser.

Laura hätte nicht sagen können, was unerträglicher war: daß der Weiße Aal sie ständig bedrohte oder daß sie miterleben mußte, wie Tammys ohnehin nur schwach ausgeprägte Persönlichkeit weiter schwand und sie sich einem Zustand völliger Gefühl- und Reglosigkeit näherte. Aber am 30. August, einem Mittwoch, wurden Laura überraschend beide Lasten von den Schultern genommen: Sie erfuhr, daß sie bereits am Donnerstag zu Pflegeeltern nach Costa Mesa kommen sollte.

Sie bedauerte jedoch die Trennung von den Ackerson-Zwillingen. Obwohl sie die Schwestern erst seit wenigen Wochen kannte, hatte die unter extremen Verhältnissen geschlossene Freundschaft sich rascher und haltbarer gefestigt, als das unter normalen Umständen der Fall gewesen wäre.

Als die drei an diesem Abend in ihrem Zimmer auf dem Boden hockten, sagte Thelma: »Shane, solltest du zu einer guten Familie, in ein glückliches Heim kommen, genießt du’s hoffentlich. Solltest du’s gut treffen, vergißt du uns am besten, suchst dir neue Freunde und lebst dein Leben weiter. Aber das legendäre Ackerson-Duo - Ruth et moi - hat schon dreimal schlechte Erfahrungen mit Pflegeeltern gemacht, und ich kann dir versichern, daß du nicht bleiben mußt, falls du zu schrecklichen Leuten kommen solltest.«

»Du weinst einfach viel und läßt alle merken, wie unglücklich du bist«, sagte Ruth. »Solltest du nicht weinen können, tust du wenigstens so.«

»Sei mürrisch«, ergänzte Thelma. »Und ungeschickt. Sorg dafür, daß bei jedem Abspülen irgendein Geschirrstück in Brüche geht. Sei einfach unausstehlich.«

Laura war überrascht. »Das alles habt ihr getan, um ins McIllroy zurückzukommen?«

»Das alles und mehr«, bestätigte Ruth.

»Aber ist’s nicht schrecklich gewesen, absichtlich Sachen kaputtzumachen?«

»Für Ruth ist’ s schlimmer gewesen als für mich«, antwortete Thelma. »Ich habe den Teufel im Leib, während Ruth die Reinkarnation einer unscheinbaren, demütigen kleinen Nonne aus dem vierzehnten Jahrhundert ist, deren Name wir noch nicht haben ermitteln können.«

Innerhalb eines Tages wußte Laura, daß sie nicht bei der Familie Teagel bleiben wollte, aber sie versuchte sich einzugewöhnen, weil sie anfangs noch glaubte, dort besser aufgehoben zu sein als im McIllroy Home.

Für Flora Teagel, die sich nur für Kreuzworträtsel interessierte, war das reale Leben lediglich ein verschwommener Hintergrund ihrer Existenz. Sie verbrachte die Tage und Abende in eine Strickjacke gewickelt, die sie bei jedem Wetter trug, in ihrer gelben Küche am Tisch und arbeitete mit einem Eifer, der zugleich verblüffend und idiotisch war, ein Kreuzworträtselheft nach dem anderen durch.

Mit Laura sprach sie im allgemeinen nur, um ihr Anweisungen für die Hausarbeit zu geben oder sie nach schwierigen Lösungswörtern zu fragen. Während Laura am Ausguß stand und Geschirr spülte, fragte Flora beispielsweise: »Eine Raubkatze mit sechs Buchstaben und ‘nem O am Anfang?«

Lauras Antwort war stets die gleiche: »Weiß ich nicht.«

»Weiß ich nicht, weiß ich nicht, weiß ich nicht«, äffte Mrs. Teagel sie nach. »Du weißt anscheinend gar nichts, Mädchen. Paßt du denn in der Schule nicht auf? Hast du keinen Sinn für Sprache, für Wörter?«

Laura war natürlich von Wörtern fasziniert. Für sie besaßen Wörter magische Eigenschaften und ließen sich mit anderen zu hochwirksamen Zaubersprüchen kombinieren. Für Flora Teagel waren Wörter lediglich Mosaiksteine, die sie zum Ausfüllen von leeren Kästchen brauchte: sinnentleerte Buchstabenanhäufungen, die sie frustrierten.