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Ihre Angst mußte sichtbar gewesen sein, denn Carl Dockweiler sagte: »Mach dir keine Sorgen. Nina hat einen angeborenen Herzfehler, aber wenn sie Streß meidet, kann sie damit so lange leben wie du oder ich.«

»Kann er nicht operiert werden?« fragte Laura und legte die Pizzaschnitte weg, in die sie eben hatte beißen wollen. Sie hatte plötzlich keinen Appetit mehr.

»Die Herzchirurgie macht große Fortschritte«, erklärte Nina ihr. »Vielleicht in ein paar Jahren. Aber das braucht dir keine Sorgen zu machen, mein Schatz. Ich passe gut auf mich auf -vor allem jetzt, wo ich eine Tochter habe, die ich verhätscheln kann!«

»Wir haben uns eigene Kinder gewünscht«, sagte Carl, »nur hat’s leider nie geklappt. Als wir uns dann zur Adoption entschlossen, trat Ninas Herzfehler auf, so daß wir nicht als Adoptiveltern in Frage kamen.«

»Aber wir erfüllen die Voraussetzungen für Pflegeeltern«, ergänzte Nina, »und wenn’s dir bei uns gefällt, kannst du bei uns leben, als ob wir dich adoptiert hätten.«

In ihrem großen Schlafzimmer mit Blick auf das jetzt unheimlich dunkle Meer sagte Laura sich an diesem Abend, sie dürfe die Dockweilers nicht zu sehr liebgewinnen, weil Ninas Herzfehler eine sichere, fundierte Zukunft ausschließe.

Am nächsten Tag, einem Sonntag, fuhren die beiden mit ihr einkaufen und hätten ein Vermögen für Kleidung ausgegeben, wenn Laura sie nicht schließlich gebeten hätte, nicht noch mehr zu kaufen. Mit dem Kofferraum ihres Mercedes voller Tragtüten fuhren sie ins Kino, um sich eine Komödie mit Peter Sellers anzusehen, und danach zum Abendessen in ein HamburgerRestaurant, das für seine gigantischen Milchmixgetränke bekannt war.

»Ihr könnt von Glück sagen, daß ihr vom Jugendamt statt eines anderen Kindes mich geschickt bekommen habt«, stellte Laura fest, während sie Ketchup über ihre Pommes frites verteilte.

Carl zog die Augenbrauen hoch. »Oh?«

»Nun, ihr seid nett, zu nett - und weit verwundbarer, als ihr ahnt. Jedes Kind würde eure Verwundbarkeit erkennen, und viele würden sie ausnützen. Gnadenlos. Aber bei mir könnt ihr ganz unbesorgt sein. Ich nütze euch niemals aus oder benehme mich so, daß es euch leid tut, mich aufgenommen zu haben.«

Die beiden starrten sie verblüfft an.

Zuletzt wandte Carl sich an seine Frau. »Nina, wir sind reingelegt worden! Das ist keine Zwölfjährige. Sie haben uns eine Zwergin untergeschoben.«

Abends im Bett wiederholte Laura vor dem Einschlafen ihre dem eigenen Schutz dienende Litanei: »Du darfst sie nicht zu sehr liebgewinnen ... du darfst sie nicht zu sehr liebgewinnen ...« Aber sie hatte sie bereits sehr liebgewonnen.

Die Dockweilers schickten Laura auf eine Privatschule, deren Anforderungen höher waren als in den bisher von ihr besuchten öffentlichen Schulen; sie nahm diese Herausforderung jedoch bereitwillig an und bekam gute Noten. Allmählich schloß sie auch neue Freundschaften. Ruth und Thelma fehlten ihr sehr, aber sie tröstete sich mit der Gewißheit, daß die beiden sich wohl darüber freuten, daß sie’s so gut getroffen hatte.

Sie begann sogar zu glauben, sie könne Vertrauen zur Zukunft haben und wagen, glücklich zu sein. Schließlich hatte sie einen speziellen Beschützer, nicht wahr? Vielleicht sogar einen Schutzengel. Und ein von einem Engel beschütztes Mädchen mußte doch ein Leben voller Liebe, Glück und Sicherheit zu erwarten haben ...

Aber streckte ein Schutzengel einen Mann mit einem Kopfschuß nieder? Prügelte er einen anderen windelweich? Tat nichts zur Sache. Sie hatte einen gutaussehenden Beschützer, der vielleicht sogar ein Engel war, und liebevolle Pflegeeltern, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen. Wie hätte sie sich weigern können, glücklich zu sein, wenn sie förmlich mit Glück überschüttet wurde?

Am 5. Dezember, einem Dienstag, hatte Nina ihren monatli-chen Termin bei ihrem Kardiologen, so daß niemand zu Hause war, als Laura nachmittags aus der Schule kam. Sie sperrte die Haustür auf und legte ihre Schulbücher in der Diele auf den Louis-XIV.-Tisch am Fuß der Treppe.

Das riesige Wohnzimmer war in Crème-, Pfirsich- und blassen Grüntönen gehalten, so daß es trotz seiner Abmessungen behaglich wirkte. Als Laura an einem der Fenster stand, um die Aussicht zu bewundern, überlegte sie sich, wieviel schöner es wäre, wenn Ruth und Thelma sie mit ihr genießen könnten -und plötzlich erschien es ihr nur natürlich, daß die beiden ebenfalls hier waren.

Warum eigentlich nicht? Carl und Nina liebten Kinder. Ihre Liebe hätte für ein ganzes Haus voll Kinder, für ein Dutzend Kinder ausgereicht.

»Shane«, sagte sie laut, »du bist ein Genie!«

Laura ging in die Küche und stellte einen Imbiß zusammen, den sie in ihr Zimmer mitnehmen wollte. Während sie sich ein Glas Milch eingoß, ein Schokoladehörnchen im Backofen aufwärmte und einen Apfel aus dem Kühlschrank holte, überlegte sie, wie sie das Thema Zwillinge bei den Dockweilers anschneiden sollte. Ihr Plan war so erfolgversprechend, daß sie keine Möglichkeit eines Scheiterns sah, als sie ihren Imbiß zu der Schwingtür zwischen Küche und Eßzimmer trug und sie mit einer Schulter aufstieß.

Der Aal hatte ihr im Eßzimmer aufgelauert, bekam sie zu fassen und schmetterte sie mit solcher Gewalt gegen die Wand, daß ihr die Luft wegblieb. Der Apfel und das Hörnchen rutschten vom Teller, der Teller flog ihr aus der Hand, das Milchglas wurde Laura aus der anderen Hand geschlagen und zerschellte klirrend am Eßtisch. Er zog sie von der Wand weg, um sie sofort wieder dagegenzuschmettern. Ein Schmerz durchzuckte ihren Hinterkopf, ihr Blick trübte sich, sie wußte, daß sie nicht ohnmächtig werden durfte, deshalb klammerte sie sich an ihr Bewußtsein, klammerte sich hartnäckig daran, obwohl sie keine Luft bekam, starke Schmerzen und bestimmt schon eine leichte Gehirnerschütterung hatte.

Wo war ihr Beschützer? Wo nur?

Sheener brachte sein Gesicht dicht an ihres heran, und das Entsetzen schien ihre Sinne zu schärfen, denn sie nahm jede Einzelheit seiner wutverzerrten Visage wahr: die noch immer roten Stiche, mit denen sein fast abgerissenes Ohr wieder angenäht worden war, die schwarzen Mitesser in den Poren um die Nase herum, die Aknenarben in der teigigen Haut. Seine grünen Augen hatten nichts Menschliches mehr an sich: Sie waren fremdartig wie die einer blutrünstigen Raubkatze.

Ihr Beschützer würde den Aal jetzt gleich von ihr wegzerren, ihn wegzerren und unschädlich machen. Bestimmt gleich im nächsten Augenblick!

»Jetzt hab’ ich dich«, kreischte er im schrillen Ton eines Verrückten, »jetzt gehörst du mir, Süße, und sagst mir, wer das Schwein gewesen ist, das mich verprügelt hat, damit ich den Kerl abknallen kann!«

Seine Finger gruben sich in das Fleisch ihrer Oberarme. Er hob Laura hoch, brachte sie auf Augenhöhe und drückte sie gegen die Wand. Ihre Füße baumelten in der Luft.

»Wie heißt das Schwein?« Er war furchtbar stark. Er stieß sie erneut gegen die Wand und hielt sie dann wieder in Augenhöhe fest. »Sag’s mir, Süße, sonst muß ich dir ein Ohr abreißen.«

Im nächsten Augenblick. Bestimmt im nächsten Augenblick.

Lauras Hinterkopf tat noch immer weh, aber sie bekam wenigstens wieder Luft, obwohl sie dabei seinen Atem, der ekelerregend säuerlich war, einatmen mußte.

»Du sollst antworten, Süße.«

Vielleicht brachte er sie um, wenn sie tatenlos auf das Eingreifen ihres Schutzengels wartete.

Sie trat ihn in den Unterleib. Ein Volltreffer. Er hatte mit gespreizten Beinen vor ihr gestanden und war sich wehrende Mädchen so wenig gewöhnt, daß er den Tritt nicht einmal kommen sah. Seine Augen weiteten sich, wirkten dabei für kurze Zeit geradezu menschlich, er stieß einen leisen, erstickten Laut aus. Seine Hände ließen Laura los, die zu Boden glitt. Sheener stolperte rückwärts, verlor das Gleichgewicht, fiel gegen den Eßtisch und klappte seitlich auf dem chinesischen Teppich zusammen.