Laura, die durch Schmerz, Schock und Angst wie gelähmt war, konnte nicht aufstehen. Ihre Beine versagten ihr den Dienst. Also mußte sie kriechen. Das ging. Weg von ihm. In verzweifelter Hast. Auf den Rundbogen zwischen Eß- und Wohnzimmer zu. In der Hoffnung, daß sie sich daran würde hochziehen können. Er bekam ihren linken Knöchel zu fassen. Sie versuchte sich loszustrampeln. Aussichtslos. Sheener hielt sie eisern fest. Kalte Finger. Leichenkalt. Aus seiner Kehle kam ein schriller, dünner Laut. Nicht der eines Menschen. Ihre Hand berührte einen Milchfleck auf dem Teppich. Sie sah das zerbrochene Glas. Die obere Hälfte war abgesplittert. Der von Glaszacken gesäumte schwere Fuß, an dem noch Milchtropfen hingen, war intakt geblieben. Noch immer vom Schmerz in seinen Bewegungen eingeschränkt, ergriff der Aal auch ihren zweiten Knöchel. Robbte, kroch, schlängelte sich an Laura heran. Immer noch mit diesem hohen, dünnen Laut. Wollte sich auf sie werfen. Sie unter sich begraben. Sie griff nach dem zerbrochenen Glas, schnitt sich den rechten Daumen auf, ohne etwas zu spüren. Er ließ ihre Knöchel los und packte ihre Schenkel. Laura wälzte sich auf den Rücken, als wäre sie ein Aal. Stieß ihm den Zackenrand des zerbrochenen Glases entgegen - nicht um ihn zu verletzen, nur in der Hoffnung, ihn dadurch abzuschrecken. Aber er warf sich in diesem Moment auf sie, ließ sich nach vorn fallen, und die drei Glaszacken bohrten sich tief in seine Kehle. Er versuchte zurückzuweichen, schlug nach ihrer Hand. Die Zacken brachen in seinem Fleisch ab. Er röchelte, würgte, nagelte Laura mit seinem Gewicht auf dem Teppich fest. Aus seiner Nase schoß Blut. Sie drehte und wand sich unter ihm. Er umklammerte sie noch fester. Sein linkes Knie preßte sich in ihre rechte Hüfte. Dann lag sein Mund an ihrer Kehle. Er biß zu. Seine Zähne bekamen nur eine Hautfalte zu fassen. Beim nächsten Mal würden seine Zähne sie richtig zu fassen kriegen. Sie schlug wild um sich. Bei jedem keuchenden Atemzug pfiff Luft durch seine aufgeschlitzte Kehle. Sie entwand sich ihm und war frei. Er wollte sie wieder packen. Sie trat nach ihm. Ihre Beine gehorchten ihr jetzt wieder besser. Ein kräftiger, wirkungsvoller Tritt. Sie kroch in Richtung Wohnzimmer. Bekam den Rahmen des Rundbogendurchgangs zu fassen. Zog sich daran hoch. Sah sich um. Auch der Aal war wieder auf den Beinen, schwang einen Eßzimmerstuhl wie eine Keule. Laura duckte sich. Der Stuhl krachte mit ohrenbetäubendem Lärm gegen den Türrahmen. Sie taumelte ins Wohnzimmer, wollte in die Diele, zur Haustür, ins Freie. Er schleuderte den Stuhl nach ihr, traf ihre Schulter. Sie ging zu Boden, rollte sich ab, schaute nach oben. Er stand hoch aufgerichtet da, beugte sich nieder, packte ihren linken Arm. Ihr wurde schwarz vor den Augen. Er packte auch den anderen Arm. Sie war erledigt. Wäre erledigt gewesen, hätte nicht einer der Glassplitter in seiner Kehle jetzt die Halsschlagader durchtrennt. Aus seiner Wunde schoß jäh ein pulsierender Blutstrom. Sheener brach mit dem schweren, schrecklichen Gewicht eines Toten auf Laura zusammen.
Sie konnte sich nicht bewegen, konnte kaum atmen und hatte Mühe, bei Bewußtsein zu bleiben. Über den grausig an- und abschwellenden Ton ihres erstickten Schluchzens hinweg hörte sie eine Tür aufgehen. Dann kamen Schritte näher.
»Laura? Ich bin wieder da!« Das war Ninas Stimme, anfangs unbekümmert heiter, dann schrill vor Entsetzen. »Laura? Mein Gott, Laura!«
Laura versuchte, den Toten von sich fortzuschieben, aber sie konnte sich nur halb unter der Leiche hervorwälzen - gerade weit genug, um Nina an der Wohnzimmertür stehen zu sehen.
Nina war zunächst vor Entsetzen wie gelähmt. Sie starrte ins Cremeweiß, Pfirsichgelb und Meergrün ihres Wohnzimmers, das jetzt unregelmäßig verteilte Rotakzente aufwies. Dann fiel der Blick ihrer veilchenblauen Augen auf Laura, und sie erwachte mit einem Ruck aus ihrer Trance. »Laura, o mein Gott, Laura!« Sie trat zwei, drei Schritte auf sie zu, blieb plötzlich stehen und krümmte sich keuchend zusammen, als habe jemand ihr mit der Faust einen Schlag in den Magen versetzt. Sie wollte sich aufrichten. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Dann konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten und brach lautlos zusammen.
Das durfte nicht sein! Das war nicht fair, verdammt noch mal!
Panik und ihre Liebe zu Nina verliehen Laura neue Kräfte. Sie wälzte sich unter Sheener hervor und kroch rasch zu ihrer Pflegemutter hinüber.
Nina lag schlaff und ohne Bewegung. Ihre schönen Augen standen blicklos offen.
Laura legte ihre blutverschmierte Hand an Ninas Hals und versuchte, ihren Puls zu erfühlen. Sie bildete sich ein, ihn gefunden zu haben. Schwach, unregelmäßig, aber spürbar.
Sie zerrte ein Kissen vom nächsten Sessel, bettete Ninas Kopf darauf und hastete in die Küche, wo die Notrufnummern von Polizei und Feuerwehr auf dem Wandtelefon standen. Mit bebender Stimme meldete sie Ninas Herzanfall und gab der Feuerwehr ihre Adresse an.
Als sie auflegte, wußte sie, daß alles wieder gut werden würde, denn sie hatte schon ihren Vater durch einen Herzanfall verloren, und es wäre einfach absurd gewesen, Nina auf gleiche Weise zu verlieren. Gewiß, das Leben hatte seine absurden Augenblicke, aber das Leben selbst war nicht absurd. Es war seltsam, schwierig, wundersam, köstlich, rätselhaft, aber nicht einfach absurd. Deshalb würde Nina überleben, weil ihr Tod unsinnig gewesen wäre.
Noch immer ängstlich und besorgt, aber eigentlich schon getröstet lief Laura ins Wohnzimmer zurück, kniete neben ihrer Pflegemutter nieder und nahm sie in die Arme.
Der Rettungsdienst in Newport Beach war erstklassig organisiert. Seit Lauras Anruf waren erst drei, vier Minuten vergangen, als bereits der Krankenwagen vorfuhr. Die beiden Sanitäter waren erfahren und gut ausgerüstet. Trotzdem konnten sie nur noch Ninas Tod feststellen: Sie war zweifellos schon tot gewesen, als sie zusammenbrach.
10
Eine Woche nach Lauras Rückkehr ins McIllroy Home und acht Tage vor Weihnachten wies Mrs. Bowmaine Tammy Hinsen wieder das vierte Bett im Zimmer der Ackerson-Zwillinge zu. In einem ungewöhnlich vertraulichen Gespräch mit Laura, Ruth und Thelma erläuterte die Sozialarbeiterin ihnen den Grund für diese Verlegung: »Ich weiß, ihr sagt, daß Tammy sich bei euch Mädchen nicht wohl fühlt, aber sie scheint hier besser zurechtzukommen als anderswo. Wir haben sie in verschiedenen Zimmern untergebracht, aber die anderen Kinder vertragen sich nicht mit ihr. Ich weiß nicht, was die Kleine an sich hat, daß sie zur Ausgestoßenen wird, aber von ihren Zimmergenossinnen bezieht sie am Ende immer Prügel.«
Als sie vor Tammys Ankunft wieder in ihrem Zimmer waren, nahm Thelma die Yogagrundhaltung mit sitzend übereinandergeschlagenen Beinen ein. Seit die Beatles sich für fernöstliche Meditation interessierten, hatte auch sie Yoga gelernt, weil sie sich sagte, wenn sie eines Tages Paul McCartney begegne (was unweigerlich passieren würde), »wäre es nett, wenn wir etwas gemeinsam hätten, was der Fall ist, wenn ich ‘ne Ahnung von diesem Yogascheiß habe«.
Anstatt zu meditieren, fragte sie jetzt: »Was hätte die Kuh wohl getan, wenn ich gesagt hätte: >Mrs. Bowmaine, die anderen Kinder mögen Tammy nicht, weil sie sich von dem Aal hat bumsen lassen und ihm bei der Suche nach weiteren Opfern geholfen hat, so daß sie aus unserer Sicht der Feind ist!?< Wie hätte die Bowmaine reagiert, wenn ich ihr das hingeknallt hätte?«
»Sie hätte dich ein verlogenes Aas genannt«, antwortete Laura und ließ sich rücklings auf ihr wackeliges Bett fallen.
»Zweifellos! Und dann hätte sie mich zum Mittagessen verspeist. Habt ihr gesehen, wie unförmig sie geworden ist? Sie wird jede Woche fetter. Eine Riesin dieser Art ist gefährlich: eine heißhungrige Allesfresserin, die imstande ist, das nächste Kind mit Haut und Haar so beiläufig zu verschlingen, wie sie ‘ne Familienpackung Eiscreme verdrücken würde.«