Als Markwell endlich seine Fesseln abstreifte, war es bereits 0.25 Uhr. Seine Handgelenke waren aufgeschürft und bluteten.
Obwohl seit einer halben Stunde keine Geräusche mehr aus dem Erdgeschoß zu hören waren, nahm er seine Pistole aus der Nachttischschublade und stieg vorsichtig die Treppe hinunter. Als erstes ging er ins Sprechzimmer, weil er damit rechnete, daß der Drogenschrank aufgebrochen sein würde. Aber die beiden weißen Hängeschränke mit Medikamenten waren unangetastet.
Markwell hastete in sein Arbeitszimmer, wo bestimmt der nicht sonderlich massive Wandsafe geknackt worden war. Auch dieser war unversehrt.
Als er sich verwirrt abwandte, fiel sein Blick auf leere Gin-, Whisky-, Wodka- und Tequilaflaschen, die sich im Ausguß der Hausbar türmten. Der Eindringling hatte sich lediglich noch die Zeit genommen, seine Alkoholvorräte zu suchen und wegzuschütten.
Am Spiegel hinter der Bar hing ein Zettel. Der Unbekannte hatte eine Nachricht in sauberer Druckschrift hinterlassen:
Wenn Sie nicht zu trinken aufhören, wenn Sie nicht lernen, Lennys Tod zu akzeptieren, nehmen Sie binnen Jahresfrist eine Pistole in den Mund und setzen so Ihrem Leben ein Ende. Das ist keine Voraussage, sondern eine Tatsache.
Markwell, der Zettel und Pistole umklammert hielt, sah sich in dem leeren Raum um, als wäre der Unbekannte noch immer da, unsichtbar, ein Gespenst, das nach Belieben zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wählen könne. »Wer bist du?« fragte er heiser. » Verdammt noch mal, wer bist du?«
Die einzige Antwort gab der ums Haus heulende Sturm, dessen klagenden Lauten Markwell jedoch keine Bedeutung zu entnehmen vermochte.
Nach einer sehr früh am Morgen erledigten Vorsprache bei einem Bestattungsunternehmen wegen Janets Beisetzung kam Bob Shane am nächsten Vormittag um 11 Uhr ins Krankenhaus, um seine neugeborene Tochter zu sehen. Nachdem er einen Baumwollkittel angezogen, eine Kappe aufgesetzt, eine Gesichtsmaske angelegt und sich unter Aufsicht einer Krankenschwester die Hände geschrubbt hatte, durfte er die Säuglingsstation betreten, wo er Laura behutsam aus ihrem Bettchen hob.
Sie lag in dem Raum mit neun anderen Neugeborenen. Alle Babys waren irgendwie hübsch, und Bob glaubte, von väterlicher Voreingenommenheit frei zu sein, wenn er Laura Jean dennoch für die hübscheste von allen hielt. Obwohl man sich Engel normalerweise blond und blauäugig vorstellte, wirkte Laura trotz ihrer braunen Augen und ihres braunen Haares engelhaft. In den zehn Minuten, die er sie auf dem Arm hielt, weinte sie keine Sekunde lang; sie blinzelte, bewegte die Augen, gähnte, sah auch nachdenklich drein - ganz, als wäre sie sich bewußt, eine Halbwaise zu sein, wisse, daß ihr Vater und sie in einer erbarmungslosen, gefährlichen Welt nun aufeinander angewiesen sein würden.
In eine Wand war ein großes Fenster eingelassen, durch das Verwandte die Neugeborenen betrachten konnten. Dahinter standen fünf Personen. Vier von ihnen lächelten, zeigten auf die Babys und schnitten Grimassen, um sie zu unterhalten.
Der fünfte Besucher war ein blonder Mann, der eine lange Seemannsjacke trug, in deren Taschen er seine Hände vergraben hatte. Er lächelte nicht, zeigte auf kein Neugeborenes und schnitt keine Grimassen. Er starrte Laura an.
Als der Unbekannte die Kleine auch nach einigen Minuten nicht aus den Augen ließ, begann Bob sich Sorgen zu machen. Der Kerl sah gut und vertrauenerweckend aus, aber da waren auch harte Linien in seinem Gesicht, und irgend etwas an ihm erweckte in Bob den Verdacht, dies sei ein Mann, der schon schreckliche Dinge erlebt und getan habe.
Bob erinnerte sich an sensationell aufgemachte Zeitungsmeldungen über Kindesentführer, die Babys stahlen, um sie auf dem Schwarzen Mark zu verkaufen. Dann warf er sich vor, unter Verfolgungswahn zu leiden und Gefahren zu sehen, wo keine waren, weil er nach Janets Tod nun fürchtete, auch seine Tochter zu verlieren. Aber je länger der blonde Mann Laura betrachtete, desto unbehaglicher wurde es Bob zumute.
Der Mann blickte auf, als spüre er dieses Unbehagen. Die beiden starrten sich an. Die blauen Augen des Fremden waren ungewöhnlich leuchtend und durchdringend. Bobs Angst verstärkte sich. Er hielt seine Tochter an sich gepreßt, als könnte der Unbekannte die Scheibe einschlagen und sie ihm entreißen. Er überlegte, ob er eine der Säuglingsschwestern rufen solle, damit sie mit dem Mann rede und ihn frage, was er hier zu suchen habe.
Dann lächelte der Unbekannte. Es war ein breites, warmes, ehrliches Lächeln, das sein Gesicht verwandelte. In dieser Sekunde wirkte er nicht mehr bedrohlich, sondern aufrichtig freundlich. Er blinzelte Bob zu und sagte hinter der dicken Fensterscheibe mit übertrieben deutlichen Lippenbewegungen nur ein Wort: »Wunderhübsch.«
Bob lächelte erleichtert, dann fiel ihm ein, daß man sein Lächeln wegen der Gesichtsmaske nicht sehen konnte, und er nickte dankend.
Der Unbekannte betrachtete Laura erneut, blinzelte Bob nochmals zu und verließ seinen Platz am Fenster.
Später, als Bob Shane heimgefahren war, trat ein großer Mann in dunkler Kleidung ans Besucherfenster der Säuglingsstation. Er hieß Kokoschka. Er betrachtete die Babys, dann verschob sich sein Blickfeld, und er nahm sein farbloses Spiegelbild in der blankgeputzten Scheibe wahr.
Er hatte ein breites, flaches Gesicht mit scharfen Zügen und so schmalen, harten Lippen, daß sie aus Horn hätten sein können. Auf seiner linken Backe saß ein fünf Zentimeter langer Schmiß. Seine dunklen Augen besaßen keine Tiefe, als wären die Pupillen auf Porzellankugeln aufgemalt; sie glichen den kalten Augen eines die düsteren Meerestiefen durchstreifenden Hais. Die Erkenntnis, wie sehr sein Gesicht sich von den unschuldigen Gesichtern der Säuglinge in den Bettchen hinter dem Fenster unterschied, belustigte ihn. Er lächelte, was er nur selten tat, aber da war keine Wärme, nur noch mehr Bedrohlichkeit in seinem Gesicht.
Er betrachtete sein Spiegelbild erneut. Es war ihm nicht schwergefallen, Laura Shane inmitten der übrigen Wickelkinder zu identifizieren, denn der Nachnahme jedes Kindes stand auf einem Namensschild über seinem Bettchen.
Weshalb gilt dir soviel Interesse, Laura? fragte er sich. Weshalb ist dein Leben so wichtig? Weshalb dieser ganze Aufwand, damit du sicher auf diese Welt gelangst? Soll ich dich jetzt umbringen und so die Pläne des Verräters durchkreuzen?
Ihre Ermordung hätte ihm keine Gewissensbisse bereitet. Er hatte schon früher Kinder umgebracht, allerdings noch nie so kleine. Kein Verbrechen war zu schrecklich, wenn es der Sache diente, der er sein Leben geweiht hatte.
Die Kleine schlief. Ab und zu bewegte sie die Lippen und verzog ihr winziges Gesicht, als träume sie sehnsüchtig und wehmütig von ihrer Zeit im Mutterleib.
Zuletzt beschloß er, sie nicht umzubringen. Noch nicht. »Liquidieren kann ich dich auch später, Kleine«, murmelte er. »Ich will erst wissen, welche Rolle du in den Plänen des Verräters spielst - dann kann ich dich beseitigen.«
Kokoschka verließ seinen Platz am Fenster. Er wußte, daß er das Mädchen über acht Jahre lang nicht wiedersehen würde.
2
In Südkalifornien regnet es im Frühjahr, Sommer und Herbst nur selten. Die eigentliche Regenzeit beginnt im Dezember und endet im März. Aber am 2. April 1963, einem Dienstag, war der Himmel bedeckt und die Luftfeuchtigkeit hoch. Bob Shane, der an der Eingangstür seines kleinen Lebensmittelgeschäfts in Santa Ana stand, rechnete ziemlich sicher damit, daß der letzte große Regenguß dieser Saison bevorstand.
Der Feigenbaum im Vorgarten des Hauses gegenüber und die Dattelpalme an der Straßenecke standen bei windstiller Luft unbewegt und schienen ihre Zweige unter dem Gewicht des aufziehenden Sturms hängen zu lassen.