»Du bist's wieder?« rief der Kapitän. »Ich glaubte nicht, daß die Mine dich verschonen würde!«
»Ich kann viel vertragen!«
Der Hamburger und der Neger waren gleichfalls zur Stelle, ebenso schwarz und zerrissen wie er. Die drei stürmten nun mutig voran in den Hof, mit Enterpiken und Pistolen in der Hand. Der Korsar und die andern Piraten folgten.
Es war keine Seele zu erblicken. Soldaten, Stallknechte, Knappen und Diener – alle waren in die Küstenwälder geflohen. Nur ein Pferd lag mit gebrochenem Bein am Boden.
»Sie sind umgezogen!« scherzte Carmaux, lustig wie immer. »Wollen wir nicht ein Schild ›Hier ist ein Palast zu vermieten!‹ ans Portal hängen?«
Auf einen Wink des Korsaren stürzten sie nun die Treppen hinauf und durchsuchten die Zimmerflucht. Aber auch hier standen die Türen offen, Zimmer und Säle waren verödet, die Möbel durcheinandergeworfen, die Truhen geöffnet und leer. Alles deutete auf eine eilige Flucht hin.
Plötzlich hörte man aus einem Zimmer lautes Geschrei. Der Kapitän sah, wie Carmaux und Stiller einen großen, hagern spanischen Soldaten vor sich herstießen.
»Erkennt ihr ihn, Kommandant?« fragte Carmaux.
Der Krieger nahm seinen mit einer zerzausten Feder verzierten Stahlhelm ab, verneigte sich tief und sagte: »Ich bin Euer ehemaliger Gefangener. Ihr habt mich nicht aufhängen wollen, und darum lebe ich noch.«
»Du wirst mir für alle zahlen, Schurke!« schrie der Korsar.
»Dann wäre es allerdings besser gewesen, wenn ich mit den andern das Weite gesucht hätte!«
»Und warum bist du hiergeblieben?«
»Ich wollte dem Schwarzen Korsaren, der mir großmütig das Leben geschenkt hat, einen Dienst erweisen und mich zugleich am Gouverneur für meine ungerechte Behandlung rächen.«
»Du?«
»Ja, als der Flame erfuhr, daß Ihr mich nicht gehenkt habt, ließ er mir fünfundzwanzig Stockschläge geben. Mir, Don Bartolomeo de Barboza, dem Abkömmling eines alten katalonischen Geschlechts. Dieser Fremde behandelt die spanischen Soldaten wie Hunde und die spanischen Adligen wie indianische Sklaven. Darum bin ich hiergeblieben und habe Euch erwartet!«
»Er ist geflohen?«
»Ja, als er sah, daß das Fort in Eure Hände fiel. Aber ich weiß, wohin, und werde Euch auf seine Spur führen.«
»Betrügst du mich auch nicht? Hüte dich, sonst lasse ich dir das magere Fell über die Ohren ziehen!«
»Bin ich denn nicht ganz in Eurer Hand?« fragte der Soldat. »Ihr könnt mich nach Belieben behandeln.«
»Sprich! Wohin ist der Verräter geflohen?«
»In den Wald, nach Gibraltar zu.«
»Die Küste entlang?«
»Ja, Kommandant!«
»Kennst du den Weg?«
»Besser als die Leute, die ihn begleiten.«
»Wieviel Mann hat er bei sich?«
»Einen Hauptmann und sieben Soldaten, die ihm ergeben sind.«
»Und wo sind die andern Soldaten?«
»Zerstreut!«
»Gut!« sagte der Korsar. »Wir folgen dem Elenden und werden ihm Tag und Nacht keine Ruhe lassen! Hat er Pferde bei sich?«
»Ja, doch werden sie zurückbleiben müssen, da sie ihm auf der Flucht nichts nützen.«
Der Kapitän ging an einen Schreibtisch, auf dem sich Papier, Feder und ein kostbares Bronzetintenfaß befanden. Er nahm ein Blatt Papier und schrieb folgende Zeilen:
Lieber Pierre!
Ich verfolge van Gould durch die Wälder, habe Carmaux, Stiller und meinen Neger bei mir. Verfüge über mein Schiff und meine Leute, und wenn die Plünderung vorüber ist, komm zu mir nach Gibraltar! Dort gibt es reichere Schätze als in Maracaibo.
Der »Schwarze Korsar«.
Er schloß den Brief und übergab ihn einem Maat aus seiner Gefolgschaft. Dann verabschiedete er die andern Flibustier mit den Worten: »In Gibraltar werden wir uns wiedersehn! Jetzt geht die Jagd auf meinen Todfeind los!«
»Ich habe einen ganz neuen Strick eingesteckt, um ihn aufzuknüpfen«, sagte Carmaux lachend. »Gestern abend habe ich ihn schon ausprobiert. Ich versichere Euch, der funktioniert gut und reißt nicht!«
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Die Verfolgung des Gouverneurs
Inzwischen plünderten die Flibustier und Bukanier, die den Befehlen des Basken und Olonesen unterstellt waren, nach Herzenslust die ausgestorbene Stadt, wo sie keinen Widerstand fanden. Später wollten sie die Bewohner in den Wäldern aufstöbern, um sie auch ihrer letzten Habseligkeiten zu berauben.
Der Schwarze Korsar und seine vier Gefährten, die sich mit Gewehren und Lebensmitteln versehen hatten, begaben sich nun an die Verfolgung des Gouverneurs. Als sie die Stadt im Rücken hatten, durchquerten sie die sich an dem großen Maracaibosee entlangziehenden Waldungen auf einem kleinen, kaum sichtbaren Pfade.
Die ersten Spuren der Flüchtlingen im feuchten Waldboden wurden sofort entdeckt, nämlich die Huftritte von acht Pferden.
»Seht Ihr!« rief der Katalonier triumphierend. »Hier ist der Gouverneur mit seinem Hauptmann und den sieben Soldaten geritten, von denen einer ohne Pferd abmarschiert ist, da es gerade im Augenblick das Bein brach!«
»Glaubst du, daß sie einen großen Vorsprung vor uns haben?« fragte der Korsar.
»Fünf Stunden vielleicht!«
»Das ist viel, doch wir sind ja gute Fußgänger!«
»Hofft nur nicht, daß ihr sie heute oder morgen noch erreichen werdet! Ihr kennt die Wälder Venezuelas nicht! Wir werden uns auf unerwartete Überraschungen gefaßt machen müssen!«
»Wieso?«
»Raubtiere und Wilde können uns überfallen!«
»Mich schrecken weder die einen noch die andern.«
»Die Kariben sind furchtbar!«
»Sie werden es auch mit dem Gouverneur sein.«
»Es sind seine Verbündeten, nicht Eure!«
»Meinst du, daß er sich von den Wilden den Rücken decken läßt?«
»Schon möglich, Kapitän!«
»Das beunruhigt mich nicht! Die Wilden haben mir nie Furcht eingejagt!«
»Um so besser, Caballero, seht, hier fängt der große Wald erst an!«
Plötzlich verlor sich der Pfad. Ein undurchdringliches Dickicht dehnte sich vor ihnen aus, das den Reitern scheinbar keinen Durchgang gewährt hatte.
Niemand kann sich einen Begriff machen von der üppigen Vegetation des feuchten, heißen Bodens der südamerikanischen Regionen. Auf dieser Erde, die seit Jahrhunderten ständig von Blättern und Früchten befruchtet wird, nehmen die einfachsten Pflanzen kolossale Dimensionen an.
Wohl in keinem andern Teil der Welt sieht man solche Pflanzenmassen.
Der Schwarze Korsar und der Spanier blieben vor dem Dickicht stehen und lauschten aufmerksam. Indessen untersuchten seine Leute das dichte Laubwerk der Bäume, ob es irgendeine Überraschung bärge.
»Wo mögen die Fliehenden nur durchgekommen sein?« fragte der Korsar. »Ich sehe ja keine einzige Öffnung in dieser Pflanzenwelt. Die Bäume sind ja von Lianen dicht umwunden!«
»Ich hoffe doch nicht, daß sie der Teufel geholt hat«, murmelte der Katalonier »Es täte mir für die fünfundzwanzig Stockhiebe leid, die mir noch auf dem Rücken brennen.«
»Und ihre Pferde können doch keine Flügel gehabt haben«, sagte der Kapitän kopfschüttelnd.
»Der Gouverneur ist listig und wird versuchen, seine Spuren zu verwischen. Ist irgendein Geräusch im Walde zu hören?«
»Ja!« rief Carmaux. »Dort hinten scheint Wasser zu fließen!«
»Dann bin ich auf der richtigen Fährte. Folgt mir, Caballeros!«
Der Soldat ging zurück, um den Erdboden genau zu untersuchen. Endlich fand er die Pferdespuren wieder, denen er folgte, indem er durch eine Palmengruppe drang. Es waren Carien, die einen stacheligen Stiel und den echten Kastanien ähnliche, aber traubenförmig hängende Früchte hatten.
Vorsichtig weiterschreitend, um mit seinen Kleidern nicht an den langen, spitzen Stacheln der Stiele hängenzubleiben, gelangte er bald an die Stelle, wo Carmaux das Rinnen eines Wasserlaufs vernommen hatte. Er blickte wieder auf die Erde und suchte zwischen den Blättern und Gräsern die Fußtritte der Vierfüßler; dann aber schritt er aus, bis er an ein zwei bis drei Meter breites, trübes Gewässer gelangte.