Sie betraten nun den Weg, den die Flüchtlinge inmitten des Urwalds geöffnet hatten. Ein Irrtum war unmöglich; denn die abgeschlagenen Zweige, die in großer Zahl auf dem Boden herumlagen, waren noch nicht verwelkt.
Der Spanier und die Flibustier fingen sogar an zu laufen, um den Vorsprung etwas einzuholen. Aber wieder wurde der schnelle Marsch von einem unvorhergesehenen Hindernis gehemmt, das der Neger mit seinen bloßen Füßen und Carmaux und Stiller mit ihren kurzen Stiefeln nur mit äußerster Vorsicht überwinden konnten.
Die Hemmung bestand aus einer großen Anzahl Dornen, die ganz dicht zwischen den Riesenstämmen des Waldes wuchsen. Diese Dornenpflanzen kommen häufig in den Urwäldern Venezuelas und Guayanas vor. Da sie so scharf sind, daß sie durch jeden Stoff, sogar durch Schuhsohlen dringen, ist für denjenigen, der nicht mit dicken Ledergamaschen und starken Stiefeln geschützt ist, ein Durchkommen unmöglich.
»Donnerwetter!« schrie Stiller, der als erster in den Dornen hängenblieb. »Ist das der Weg zur Hölle? Wir werden ja hier geschunden wie der heilige Bartholomäus!«
Auch Carmaux, der zurückgesprungen war, brüllte: »Paßt auf! Wenn wir diesen Leidensweg gehen müssen, kommen wir nur als hinkende Krüppel heraus. Die Zauberer, die in diesem Walde hausen, sollten eine Tafel mit der Inschrift ›Durchgang verboten!‹ aufhängen!«
»Leider ist es schon zu spät, einen andern Weg zu suchen«, seufzte der Katalonier. »Seht!«
Fast mit einem Schlage erlosch das Tageslicht. Eine tiefe Finsternis senkte sich über den Wald.
»Müssen wir hier bleiben?« fragte der Korsar mit gerunzelter Stirn.
»Ja, bis der Mond aufgeht, bis Mitternacht. Da werden auch die Flüchtlinge ihren Marsch unterbrechen müssen.«
»Also lagern wir!«
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Im Urwald
Um den Mondaufgang zu erwarten, hatten sie sich eine Summameira ausgesucht, einen Baum mit riesigen Wurzeln und einem kolossalen Stamme, der alle Pflanzen des Waldes überragte.
Diese Bäume, die oft sechzig und selbst siebzig Meter hoch werden, ruhen auf natürlichen Sporen, nämlich auf knorrigen und ganz symmetrisch geformten Wurzeln von außerordentlicher Dicke, die weit vom Boden entfernt seltsame Bogen bilden, unter denen mehr als zwanzig Personen Schutz finden können.
Es war eine Art natürlicher Festung, die den Korsaren und seine Gefährten vor jedem plötzlichen Angriff, sei es von Menschen oder Tieren, schützte.
Sie machten es sich, so gut es ging, unter den Waldriesen bequem, aßen Gebäck und ein Stück Schinken und teilten sich die Wache der noch bleibenden vier Stunden, während die andern schliefen.
Ehe man sich Morpheus' Armen überließ, entfernte man aber zuerst das Gras, aus Furcht vor giftigen Schlangen, deren es viele in den Wäldern Venezuelas gibt.
Bei dem plötzlichen Einbruch der Dunkelheit herrschte im Walde ein vollkommene, fast schreckerregende Stille. Vögel und Vierfüßler schwiegen. Alles, was Federn und Fell hatte, verstummte für Augenblicke, als ob es verschwunden oder tot wäre. Mit einem Male aber fing ein Teufelskonzert an, so daß Carmaux, der nicht gewohnt war, seine Nächte im Urwald zu verbringen, aufgeregt emporsprang. Es war, als ob eine Schar Hunde auf den Baumzweigen Platz genommen hätte, denn von oben kamen Gebell, Geheul und lang anhaltendes Gewinsel, von einem seltsamen Gekreisch begleitet, das von tausend kreisenden Rollen herzurühren schien.
»Mein Gott!« rief der Seemann und starrte in die Höhe. »Was ist denn los? Man sollte meinen, alle Hunde dieses Landes hätten Vogelflügel und Katzenkrallen bekommen! Wie sind die nur auf die Bäume gestiegen? Kannst du mir es nicht sagen, Gevatter Kohlensack?«
Statt zu antworten, lachte der Neger in sich hinein.
»Und was ist das hier?« fragte Garmaux weiter. »Es hört sich an, als ob hundert Seeleute alle Schiffsschrauben zu irgendeinem Manöver gleichzeitig knarren ließen. Sollten das Affen sein?«
»Nein«, antwortete der Neger, »das sind alles, alles Frösche.«
»Die singen so?«
»Ja, Gevatter.«
»Und was ist das? Hörst du? Als ob Tausende von Schmieden auf alle Kupferkessel Beelzebubs schlügen!«
»Das sind auch Frösche.«
»Donnerwetter! Wenn mir das ein anderer sagte, würde ich glauben, er machte sich über mich lustig, oder er wäre verrückt. Ist das vielleicht eine neue Spezies?«
Plötzlich übertönte ein mächtiges Maunzen, gefolgt von Geheul, alle andern Laute im Urwald. Selbst das Froschkonzert schwieg. Der Neger hob spähend das Haupt und griff eilig nach seinem Gewehr, eine Bewegung, die lebhafte Furcht ausdrückte.
»Ist dieser heulende Herr vielleicht auch ein Frosch?«
»O nein«, rief der Neger, »ein Jaguar!«
»Potzdonner und Blitz! Das gräßliche Raubtier?«
»Ja, Gevatter!«
»Ich möchte mir lieber von drei Männern den Bauch aufschlitzen lassen, als mit solch einem Menschenfresser zu tun zu haben! Man sagt, daß er schlimmer als der Tiger Indiens wäre.«
»Und als die Löwen Afrikas, Gevatter!«
»Himmel und Hölle! Wenn wir hier angegriffen werden, dürfen wir ja unsere Feuerwaffen nicht gebrauchen!«
»Warum nicht?«
»Würden der Gouverneur und seine Begleiter Schüsse hören, wüßten sie sofort, daß sie verfolgt werden, und würden das Weite suchen!«
»Willst du denn einem Jaguar mit dem Messer zu Leibe gehen?«
»Wir können den Säbel nehmen!«
»Da möchte ich dich sehen!«
»Na, wünsche es mir nicht, Gevatter Kohlensack!«
Ein zweites, noch stärkeres Geheul hallte durch das finstere Dickicht. Der Neger sprang auf. Auch Carmaux wurde unruhig und brummte: »Jetzt wird die Sache ernst.«
In diesem Augenblick nahm der Schwarz Korsar seinen Mantel ab und stand auf.
»Ein Jaguar?« fragte er ruhig.
»Ja, Kapitän!«
»Ist er noch weit?«
»Nein, er scheint sich sogar zu nähern.«
»Was auch kommen mag, schießt nicht!«
»Das Raubtier wird uns aber auffressen!«
»Meinst du«, sagte er lächelnd. »Wir werden ja sehen!«
Er faltete den Mantel sorgfältig zusammen, legte ihn über den linken Arm und zog den Degen.
»Von jener Seite kam das Heulen, Kommandant!«
»Gut! Warten wir ab!«
»Soll ich den Spanier und Stiller wecken?«
»Das ist nicht nötig; wir sind genug. Seid still und schürt das Feuer!«
Jetzt hörte man deutlich die den Katzen und Jaguaren eigenen knurrenden Töne durch die Blätter hindurch, und ab und zu ein Rascheln von Blättern. Das Raubtier mußte schon die Gegenwart der Menschen gerochen haben; denn es kam vorsichtig näher.
Der Korsar stand unbeweglich lauschend neben dem Feuer, den Degen in der Hand und die Augen auf das nahe Buschwerk gerichtet, um dem Überfall der Bestie zuvorzukommen. Carmaux und der Neger standen hinter ihm, der eine mit der Enterpike, der andere mit dem Gewehr, das er mit dem Kolben nach oben hielt, um ihn gegebenenfalls als Axt zu gebrauchen.
Das Blätterrascheln hielt noch eine Weile an. Der Jaguar schien nur langsam näher zu kommen. Mit einem Male hörte jedes Geräusch auf. Der Korsar hatte sich vorgebeugt, um besser hören zu können. Als er den Kopf wieder hob, begegneten seine Blicke zwei leuchtenden Punkten, die durch das dichte Gebüsch funkelten. Sie waren unbeweglich und hatten einen grünlich phosphoreszierenden Schein.
»Da ist er«, murmelte Carmaux. »Er will uns angreifen.«
»Ich erwarte ihn«, antwortete der Korsar vollkommen ruhig.
»Diese Kaltblütigkeit!« dachte der Flibustier. »Der würde sich nicht einmal vor dem Teufel und seinen gefallenen Engeln fürchten!«
Der Jaguar blieb etwa dreißig Schritt von der Gruppe entfernt stehen. Er schien unentschlossen. Beunruhigte ihn das zu Füßen des Baumes brennende Feuer oder die energische Haltung des Korsaren?