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Schon glaubten die Flibustier, der Falle entronnen zu sein, als ein riesiger Baumstamm umfiel und den Weg mit dumpfem Krachen versperrte.

»Donnerwetter«, schrie Stiller, »der hätte uns beinahe zu Brei zermalmt!«

Kaum hatte er ausgesprochen, als sich ein wütendes Geschrei erhob und viele Pfeile durch die Luft schwirrten.

Der Kapitän und seine Leute hatten sich sofort hinter dem gefallenen Baum, der zur Verschanzung dienen konnte, zu Boden geworfen.

Da hörten sie in kurzer Entfernung abermals Flötentöne.

»Sie kommen!« rief Stiller.

»Empfangt sie mit einer tüchtigen Ladung!« befahl der Korsar.

»Nein, wartet, Herr!« sagte jetzt der Spanier, der den traurigen Tönen aufmerksam gelauscht hatte. »Das ist kein Kriegsmarsch! ... Seht ihr nicht jenen Mann? Es ist der ›Piaye‹ des Stammes, der Zauberer. Er wird als Parlamentär abgeschickt worden sein.«

Jetzt trat ein älterer Indianer, gefolgt von zwei Flötenspielern, aus dem Gebüsch.

Wie fast alle Indianer Venezuelas war er von mittlerer Statur, hatte breite Schultern und eine rötlich-gelbe Haut, etwas dunkler als gewöhnlich, anscheinend durch die Gewohnheit dieser Wilden, zum Schutz gegen Mückenstiche ihren Körper mit einer Salbe aus Fischtran oder Kokosnuß und Orleanbaum einzureiben.

Sein rundes, offenes, eher schwermütiges als wildes Gesicht war ohne Bart, den sich die Leute seiner Rasse meist ausreißen, aber der Kopf war mit langen blauschwarzen Haaren bedeckt.

Als Zauberer seines Stammes trug er ein Röckchen aus blauer Baumwolle. Sein reicher Schmuck bestand aus Muschelketten, Ringen, Armbändern aus Jaguarkrallen und Oberarmringen aus massivem Gold. Auf dem Kopfe trug er ein Diadem aus langen Papageifedern und Fasanenfedern, und die Nase war von einer drei bis vier daumenlangen Fischgräte durchzogen. Die beiden andern waren ebenfalls mit Schmuck überladen. Sie trugen lange hölzerne Bogen, ein Bündel Pfeile mit Knochen- oder Feuersteinspitzen und den »Batu«, eine mächtige, meterlange flache Keule, die schachbrettartig und bunt bemalt war und einen umgebogenen Rand hatte.

Der »Piaye« näherte sich auf fünfzig Schritt dem Baum und schrie mit Stentorstimme in schlechtem Spanisch: »Weiße Männer, hört mich an!«

»Die Weißen hören dich!« erwiderte der Spanier.

»Dies ist das Reich der Arawaken! Wer hat euch erlaubt, unsere Wälder zu betreten?«

»Wir haben durchaus nicht die Absicht, die Wälder der Arawaken zu entweihen«, entgegnete der Katalonier, »wir durchschreiten sie nur, um in ein anderes Gebiet zu kommen, wo Weiße leben. Wir wollen keinen Krieg mit roten Männern, im Gegenteil, wir möchten ihre Freunde sein.«

»Die Freundschaft der Weißen ist nichts für die Arawaken! Diese Wälder gehören uns! Kehrt zurück in euer Land, oder wir fressen euch allesamt auf!«

»Piaye!« rief der Korsar vortretend. »Sagt uns, sind andere weiße Männer hier vorübergekommen?«

»Ja! Wir folgen selbst ihren Spuren. Da sie nicht hörten, werden wir sie verzehren.«

»Und ich helfe dir, sie umzubringen! Es sind meine Feinde!«

»Warum wollt ihr sie auf unserem Gebiet töten? Weiße Männer, kehrt zurück, ich warne euch!«

»Ich habe dir doch gesagt, daß wir keine Gegner sind! Wir achten deinen Stamm, deine Hütten und deine Ernte!«

»Weiße Männer, kehrt zurück!« erwiderte der Zauberer mit noch größerem Nachdruck.

»Genug! Wir werden unsern Weg fortsetzen, trotz eurer Drohung!«

»Und wir werden es verhindern!«

»Wir haben Waffen, die Donner und Blitze senden!«

»Und wir unsere Pfeile!«

»Wir haben Säbel, die schneiden, und Degen, die durchbohren!«

»Und wir unsere Batus, die den festesten Schädel zerschmettern!«

»Bist du vielleicht der Verbündete der weißen Männer, die wir verfolgen?« fragte der Korsar. »Nein, denn wir wollen sie ja verspeisen!«

»Vorwärts, Gefährten!« rief der Korsar. »Zeigen wir den Indianern, daß wir sie nicht fürchten!«

Als der Piaye sie so mutig mit gezogenen Schwertern vorbeischreiten sah, verschwand er mit den beiden Flötenspielern im Dickicht.

Der Kapitän hatte seinen Leuten verboten, auf ihn zu feuern, da er den Kampf nicht als erster beginnen wollte.

Er war wieder der große Flibustier der Tortuga, der schon so viele Beweise außerordentlicher Kühnheit gegeben hatte. Unerschrocken führte er seine kleine Schar mitten durch den Wald.

Bald schwirrten Pfeile durch die Zweige, was Carmaux und Stiller mit Flintenschüssen erwiderten. Sie feuerten aber blindlings drauflos, denn es zeigte sich kein Indianer.

So gelangten sie glücklich durch den dichtesten Teil des Waldes bis zu einer Lichtung, wo sich ein stehendes Gewässer befand.

Die Sonne war schon dem Untergehen nahe. Da keine Pfeile mehr flogen, befahl der Korsar, hier auszuruhen. Alle waren zum Umsinken müde.

»Wenn sie uns angreifen wollen, können wir sie hier erwarten«, sagte er zu seinen Gefährten. »Die Lichtung ist so groß, daß wir ihr Kommen bemerken würden.«

»Ein guter Platz«, meinte der Spanier. »Die Indianer sind nur im Dickicht gefährlich, an offenen Stellen wagen sie nicht, anzugreifen. Ich werde das Lager herrichten.«

»Willst du denn eine Verteidigungsschanze bauen?« fragte Carmaux. »Das würde zu lange dauern, Freundchen!«

»Es genügt ein Feuerwall.« »Da springen sie hinüber! Sie sind doch keine Jaguare, die sich vor Feuer ängstigen!«

»Aber vor diesem Kraut! Das ist starker Pfeffer, den ich während des Marsches gesammelt habe.«

Er hielt einige Büschel hoch.

»Ich werfe das Kraut ins Feuer, und vor dem aufsteigenden Rauch haben sie Angst. Wenn sie den Feuerwall überschreiten, brennen ihnen die Augen derart, daß sie für mehrere Stunden blind sind.«

»Donnerwetter! Wo hast du das her?«

»Das habe ich von den Kariben gelernt. Auf! Sammelt Holz! Dann können wir sie seelenruhig erwarten.«

--

Zwischen Arawaken und Blutsaugern

Nachdem die Flibustier in Eile ihre übriggebliebene Schildkröte verzehrt hatten, durchsuchten sie die Umgebung, um sich zu vergewissern, ob sich auch kein Indianer dort verborgen hätte. Sie schlugen auf das Gras, um die Schlangen zu verjagen, und zündeten rings um das Lager Feuer an, auf das sie einige Hände voll Pfeffer warfen – übrigens auch ein glänzendes Mittel gegen Stechmücken und andere Tiere!

Da sie fürchteten, daß die Nacht nicht ruhig verlaufen würde, hielten sie abwechselnd Wache.

Der große Wald war still geworden, doch die Ruhe schien den Wächtern wenig vertrauenerweckend. Sie wußten, daß die Indianer lieber des Nachts als am Tag angreifen.

Carmaux hätte lieber das Maunzen der Jaguare oder das Gebrüll der Kuguare vernommen: denn die Anwesenheit dieser Raubtiere wäre wenigstens ein sicheres Zeichen gewesen, daß die Rothäute fern waren.

So wachten sie nun schon mehrere Stunden, als der Neger, der ein sehr scharfes Gehör hatte, sich zu Carmaux umwandte: »Hast du das Blätterrascheln gehört?«

»Nichts habe ich gehört«, erwiderte der Flibustier, der glückselig an einem Zigarrenstummel zog, den er in einer seiner Taschen gefunden hatte. »Heute nacht quaken weder Frösche, noch kalfatern Kröten.«

»Aber Zweige knacken.«

»So ist also dein weißer Gevatter taub.«

»Horch! Ich fühle, daß sich jemand nähert. Wirf dich zur Erde, damit dich die Pfeile nicht treffen!« Sie warfen sich beide ins Gras und gaben Stiller ein Zeichen, dasselbe zu tun. Und so lagen sie im Anschlag mit der Waffe.

Mehrere Männer schienen sich heranzuschleichen.

Da kam Carmaux ein Gedanke. Er sprang auf.

»Stiller«, rief er leise, »wirf mir deine Jacke und deine Mütze zu!«

Der Hamburger tat es.