»Das könnte stimmen«, sagte der Olonese, der nachdenklich geworden war. »Der verfluchte Herzog ist viel listiger als wir. Er kann sich an der Ostseite des Sees in Sicherheit gebracht haben. Ich hörte einmal, daß er in Honduras bei Porto Cavallo Verwandte und auch reiche Besitztümer hätte; dort dürfte er an Land gegangen sein!«
»Wie das Glück diesen Alten doch immer begünstigt!« brummte Carmaux.
»Es wird ihn auch einmal verlassen! Wenn ich eines Tages die Gewißheit hätte, ihn in Porto Cavallo zu finden, würde ich ihn auch dort aufsuchen. Diese Stadt verdient einen Besuch, und glaube mir, alle Flibustier der Tortuga würden mir folgen, um die kolossalen Reichtümer zu beschlagnahmen, die sich dort befinden sollen.«
»Treffen wir van Gould nicht mehr in Gibraltar, so werden wir das Weitere überlegen! Ich habe dir Hilfe zugesagt, und du weißt, daß der Olonese nie sein Wort bricht.«
»Hab Dank! Ich rechne darauf. Wo ist meine ›Fólgore«?
»Ich habe sie, zusammen mit den Schiffen von Harris, nach dem Golf vorgeschickt, um zu verhindern, daß uns die spanischen Kriegsschiffe behelligen.«
»Wieviel Leute führst du mit dir?«
»Einhundertundzwanzig Mann, doch heut abend wird der Baske mit weiteren vierhundert Mann eintreffen. So wollen wir morgen früh den Angriff auf Gibraltar wagen!«
»Glaubst du, daß er gelingen wird?«
»Ich bin überzeugt, obwohl ich gehört habe, daß achthundert Spanier die zur Stadt führenden Wege unzugänglich gemacht und zahlreiche Geschütze aufgefahren haben. Wir werden eine harte Nuß knacken müssen und voraussichtlich viele Leute verlieren; aber der Sieg wird unser sein, Freund!«
»Ich bin bereit, Pierre!«
»Auf dein Mitwirken habe ich gerechnet. Komm jetzt an Bord meiner Barke zum Abendessen! Dann wirst du dich ausruhen. Ich glaube, das hast du nötig.«
Der Korsar, der sich bisher mit bewundernswerter Energie auf den Füßen gehalten hatte, folgte ihm, während die Flibustier, in Erwartung des Basken und seiner Gefährten, sich am Waldesrand niederließen.
Da dieser Tag doch nicht nutzlos verbracht werden durfte, machten sich viele Korsaren auf den Weg, um die Gegend auszuspionieren und die beste Angriffsstelle zu finden.
Einige verwegene Patrouillen drangen sogar bis in Sicht der Festung vor, um sich ein klares Bild von den vom Feinde ergriffenen Maßnahmen zu machen, wobei sie sich als schiffbrüchige Fischer ausgaben.
Überall fanden sie Straßen mit Laufgräben durchzogen, mit Kanonen bestückt, überall das Feld überschwemmt und mit hohen, stacheligen Pfahlwerken versehen. Ferner hatten sie erfahren, daß der Kommandant der Feste, einer der tapfersten und mutigsten Soldaten, die Spanien zu jener Zeit besaß, seine Leute hatte schwören lassen, lieber mit dem letzten Mann unterzugehen, als das Banner des Vaterlandes preiszugeben.
Es hatte zur Folge, daß selbst die kühnsten Piraten nicht ganz ohne Besorgnis dem Kampf entgegensahen. Von einigen wurde schon befürchtet, daß diese Expedition mit einer Niederlage enden würde.
Der Olonese, der sofort von den Berichten der Kundschafter Kenntnis erhielt, verlor jedoch den Mut nicht. Am Abend, als er seine Offiziere um sich versammelt hatte, sprach er jene Worte, die von der Geschichte überliefert wurden und die das feste Vertrauen auf sich und seine Leute bezeugten:
»Seeleute, wir müssen morgen stark sein und kämpfen!
Verlieren wir die Schlacht, so verlieren wir auch unser Leben und alle unser Schätze, die uns so viel Mühe und Blut kosteten. Wir haben schon viel zahlreichere Feinde besiegt als hier in Gibraltar. Große Reichtümer erwarten uns hier! Schaut auf eure Führer und folgt ihrem Beispiel!«
Um Mitternacht langten die Schiffe des Basken Michele mit ungefähr vierhundert Mann an.
Alle Flibustier des Olonesen standen schon zum Abmarsch nach Gibraltar bereit, dessen Forts sie aber erst am folgenden Morgen anzugreifen gedachten, da man sich nicht auf einen nächtlichen Kampf einlassen wollte.
Sobald die vierhundert Mann des Basken ausgeschifft waren, reihten sie ihre Kolonnen ein. Nachdem man etwa zwanzig Mann zur Bewachung der Schiffe zurückgelassen hatte, setzte sich das kleine Heer, mit seinen drei Führern an der Spitze, in Bewegung.
Carmaux und Stiller, die sich beide ausgeruht und gut gegessen hatten, gingen hinter dem Schwarzen Korsaren her.
»Freund Stiller«, sagte der immer gutgelaunte Freibeuter, »hoffentlich setzen wir diesmal die Tatzen auf den Spitzbuben van Gould! Wie schön, wenn wir ihn beide unserem Kommandanten ausliefern könnten!«
»Ja, sobald die Forts erobert sind, wollen wir in die Stadt gehen, um ihn an der etwaigen Flucht zu hindern! Ich weiß, daß unser Kommandant fünfzig Leuten den Befehl gegeben hat, sofort den Wald zu besetzen, um dem Flüchtigen den Weg abzuschneiden.«
»Und dann ist ja auch der Katalonier da, der ihn nicht aus den Augen verlieren wird!«
»Ob er schon in Gibraltar sein wird?«
»Sicher sehen wir diesen Mordskerl tot oder lebendig wieder!«
In diesem Augenblick fühlte sich Carmaux an der Schulter berührt, und eine wohlbekannte Stimme rief:
»So ist's, Gevatter!«
Carmaux und Stiller drehten sich um und erblickten den Afrikaner.
»Du bist's, Freund Kohlensack?« rief Carmaux. »Wo kommst du her?«
»Seid zehn Stunden suche ich euch und laufe wie ein Pferd auf und ab. Stimmt es, daß euch der alte Gouverneur eingefangen hatte?«
»Wer hat das erzählt?«
»Ein Flibustier!«
»Es war so, Gevatter, doch wie du siehst, sind wir ihm wieder entschlüpft, und zwar durch die Hilfe des braven Grafen Lerma.«
»Den wir im Haus des Notars zu Maracaibo gefangenhielten?«
»Desselben. Und wie steht's mit den beiden Verwundeten, die wir dir überließen?«
»Sie sind schon gestern morgen gestorben«, antwortete der Neger.
»Arme Teufel!... Und der Katalonier?«
»Der muß jetzt schon in Gibraltar sein!«
»Dort werden wir harten Widerstand finden, meine Freunde!«
»Ich fürchte auch, daß die meisten von unsern Leuten heut nicht mehr zu Abend essen werden!«
»Hoffen wir, nicht unter den Toten zu sein!«
Inzwischen drangen die langen Kolonnen schweigsam durch das Dickicht des Waldes, der zu dieser Zeit noch Gibraltar umgab. Kleinere Trupps, zumeist Bukanier, gingen ihnen als Kundschafter voraus.
Einige bei der Vorhut gefallene Schüsse zeigten den Angriffstruppen, daß die Stadt nicht mehr fern war. Da der Olonese, der Schwarze Korsar und der Baske durch die Schüsse eine Falle vermuteten, beeilten sie sich, mit etwa zehn Mann die Spitzenabteilung zu erreichen.
Doch wurde ihnen bald kund, daß es sich nicht um ein Gefecht, sondern lediglich um einen Kugelwechsel zwischen den Vorposten gehandelt hatte.
Pierre, der nun wußte, daß die Spanier von seinem unmittelbaren Herannahen unterrichtet waren, gab jetzt den Befehl, bis zum Morgengrauen haltzumachen. Er wollte sich vorher selber von den Verteidigungsmaßnahmen des Gegners und von der Beschaffenheit des Geländes ein Bild verschaffen. Schon hatte er bemerkt, daß der Weg anfing, sumpfig zu werden.
Rechts erhob sich eine bewaldete Anhöhe. Eiligst bestieg er sie in Begleitung des Schwarzen Korsaren, in der Hoffnung, von dort aus einen guten Teil der Umgebung überschauen zu können.
Als sie auf dem Gipfel anlangten, begann die Morgendämmerung. Der Lichtschein am Himmel warf nach der Ostküste hin mit Blitzesschnelle einen rötlichen Strahl und färbte das Wasser mit einem rosa Widerschein. Das verkündete einen herrlichen Tag.
Der Olonese und Ventimiglia richteten ihren Blick sogleich auf einen ihnen gegenüberliegenden Felsen, auf dem sich zwei mächtige, zinnengekrönte Forts erhoben, über welchen das Banner Spaniens wehte. Ein Meer von Häusern mit weißem Gemäuer dehnte sich dahinter aus.