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»Werde ich dabeisein?« fragte ich erstaunt.

»Sicher.«

»Werden Sie mir sagen, wo es passieren wird?«

»In meiner Wohnung«, sagte er. »Sie und ich werden ein Problem besprechen, das Ihnen zu der Zeit zu schaffen machen wird. Die Türglocke wird läuten. Ich werde öffnen, und ein Mann wird gewaltsam in die Wohnung eindringen, ein bewaffneter Mann mit rotem Haar, der…«

»Warten Sie. Sie haben mir einmal gesagt, daß Sie in Ihrem Wohnviertel noch nie jemand belästigt habe und niemand es je tun werde.«

»Niemand, der dort lebt«, sagte Carvajal. »Dieser Mann wird ein Fremder sein. Meine Adresse hat er durch ein Versehen bekommen — er hat die falsche Wohnung erwischt — und will eine Drogenlieferung abholen, etwas für Fixer. Ich sage ihm, daß ich keine Drogen habe, aber er wird mir nicht glauben; er wird denken, ich wolle ihn hereinlegen, und wird wütend werden, er wird mit der Pistole herumfuchteln und mir drohen.«

»Und was tue ich bei alledem?«

»Sie beobachten.«

»Beobachten? Ich stehe einfach nur da mit verschränkten Armen wie ein Zuschauer?«

»Wie ein Zuschauer«, sagte Carvajal. »Sie beobachten nur.« In seinen Worten war ein scharfer Ton. Als gäbe er mir einen Befehclass="underline" Sie werden nichts tun in dieser ganzen Szene. Sie werden sich völlig raushalten, abseits, ein bloßer Zuschauer.

»Ich könnte ihn mit einer Lampe niederschlagen. Ich könnte versuchen, ihm die Pistole zu entreißen.«

»Das werden Sie nicht.«

»In Ordnung«, sagte ich. »Was passiert weiter?«

»Jemand klopft an der Wohnungstür. Einer meiner Nachbarn, der den Lärm gehört hat und sich um mich Sorgen macht. Der Gangster verliert die Nerven. Denkt, es ist die Polizei oder vielleicht eine rivalisierende Bande. Er feuert dreimal; dann zerschlägt er ein Fenster und verschwindet über die Feuerleiter. Die Kugeln treffen mich in der Brust, im Arm und in der Schläfe. Für eine Minute oder so bin ich noch da. Keine letzten Worte. Sie erleiden überhaupt keinen Schaden.«

»Und dann?«

Carvajal lachte. »Und dann? Und dann? Wie soll ich das wissen? Ich habe Ihnen doch gesagt: Ich sehe wie durch ein Periskop. Das Periskop reicht nur bis zu diesem Augenblick, kein bißchen weiter. Wahrnehmung hört da auf für mich.«

Wie ruhig er das sagte!

»Ist es das, was Sie sahen, als wir im Club der Handelsherren und Reeder beim Mittagessen waren?« fragte ich.

»Ja.«

»Sie sehen zu, wie Sie über den Haufen geschossen werden, und verlangen dann die Speisekarte, als ob nichts wäre?«

»Die Szene war mir nicht neu.«

»Wie oft haben Sie sie gesehen?« fragte ich.

»Keine Ahnung. Zwanzig-, fünfzig-, vielleicht hundertmal. Wie ein wiederkehrender Traum.«

»Ein wiederkehrender Alptraum.«

»Man gewöhnt sich daran. Nach zehn Vorführungen oder so ist die Sache emotionell überhaupt nicht mehr sehr stark geladen.«

»Es ist für Sie nichts anderes als ein Film? Ein alter Cagney-Streifen in der Spätvorstellung?«

»So etwa«, sagte Carvajal. »Die Szene selbst wird trivial, langweilig, schal, vorhersagbar. Die Folgerungen sind es, die dauern, die niemals ihre Gewalt über mich verlieren, während die konkreten Einzelheiten unwichtig geworden sind.«

»Sie akzeptieren es einfach. Sie werden nicht versuchen, dem Mann die Tür ins Gesicht zu schlagen, wenn es soweit ist. Sie werden nicht zulassen, daß ich mich hinter der Tür verstecke und ihn niederschlage. Sie werden nicht darum bitten, an dem Tag unter Polizeischutz gestellt zu werden.«

»Natürlich nicht. Was sollte dabei herausspringen?«

»Es wäre ein Experiment…«

Er schürzte die Lippen. Meine hartnäckige Rückkehr zu einem Thema, das für ihn absurd war, schien ihn zu ärgern. »Was ich sehe, ist das, was geschehen wird. Die Zeit für Experimente war vor fünfzig Jahren, und die Experimente sind alle fehlgeschlagen. Nein, wir werden nicht eingreifen, Lew. Wir werden gehorsam unsere Rollen spielen, Sie und ich. Das wissen Sie doch.«

28

Unter dem neuen Regime konferierte ich täglich mit Carvajal, manchmal mehrmals am Tag, gewöhnlich telefonisch, und übermittelte ihm die jeweils neuesten politischen Informationen — Strategien, Entwicklungen, Gespräche mit politischen Führern von außerhalb New Yorks, Daten-Projektionen, alles, was auch nur am Rande unser Vorhaben, Paul Quinn ins Weiße Haus zu hieven, berühren konnte. Der Grund dafür, dieses ganze Zeug in Carvajals Kopf zu stopfen, war der Periskop-Effekt: Er konnte nicht sehen, was sein Bewußtsein nicht zu guter Letzt irgendwie einmal wahrnähme; und was er nicht sehen konnte, konnte er mir nicht weiterreichen. Eigentlich tat ich nichts anderes, als mir selbst Botschaften aus der Zukunft zuzusenden — über die Zwischenstation Carvajal. Die Dinge, mit denen ich ihn heute fütterte, waren für diesen Zweck natürlich wertlos, da das Ich der Gegenwart sie bereits kannte; aber was ich ihm in einem Moment sagen würde, könnte für mich heute von Bedeutung sein, und da die Information an irgendeinem Punkt in das System hineinkommen mußte, begann ich den Input hier und fütterte Carvajal mit den Daten, die er vor Monaten oder sogar vor Jahren gesehen hatte.

Im Lauf des verbleibenden Jahres seines Lebens würde Carvajal zu einer einzigartigen Fundgrube zukünftiger politischer Ereignisse werden. (In der Tat war er schon jene Fundgrube, aber ich mußte jetzt konsequent sicherstellen, daß er die Information auch erhielt, die er, wie wir beide wußten, erhalten würde. All dies beinhaltet Paradoxien, aber ich ziehe es vor, sie nicht allzu genau zu untersuchen.)

Und Tag für Tag fütterte Carvajal Daten an mich zurück — hauptsächlich betrafen sie die langfristige Formung von Quinns Schicksal. Ich reichte sie gewöhnlich an Haig Mardikian weiter, obwohl einige in den Zuständigkeitsbereich George Missakians fielen — Medienkontakte — und einige, die finanzielle Dinge berührten, an Lombroso gingen; einige überbrachte ich direkt Quinn selbst. Die Memos, die ich in einer typischen Woche von Carvajal bezog, sahen ungefähr so aus:

Den Stadtentwicklungsreferenten, Spreckels, zum Mittagessen einladen. Möglichkeit eines Richteramtes andeuten.

Zur Hochzeit des Sohnes von Senator Wilkom aus Massachusetts gehen.

Vertrauliche Mitteilung an Con Ed: keine Hoffnung auf Okay für geplante Fusionsanlage in der Flatbush St.

Bruder des Gouverneurs — zum Leiter der Triboro-Kommission ernennen. Dem Vorwurf der Vetternwirtschaft mit Witzen auf Pressekonferenz zuvorkommen.

Auf den Sprecher des Staatsparlaments, Feinberg, in Sachen NY-Mass-Conn-Hubschrauber-Zusammenschluß leisen Druck ausüben.

Positionspapiere: Bibliotheken, Drogen, Bevölkerungsfluß zwischen den Staaten.

Rundgang durch Textilviertel, historische Stätten mit neuem israelischen Generalkonsul. Dazu auch einladen: Leibman, Berkowitz, Mr. Weisbard, Rabbi Dubin; ebenfalls: Msgr. O’Neill.

Manchmal konnte ich verstehen, warum mein zukünftiges Selbst Quinn diese oder jene Handlungsweise empfahl; manchmal war ich vollkommen ratlos. (Warum zum Beispiel sollte er gegen eine harmlose Vorlage des Stadtrats, die ein Parkverbot für eine Zone im Süden der Canal Street aufheben wollte, sein Veto einlegen? Wie würde ihm das helfen, Präsident zu werden?) Carvajal gab keine Hilfe. Er reichte lediglich Tipps weiter, die er von mir, von meinem Selbst in acht oder neun Monaten, erhielt. Da er tot sein würde, bevor die meisten dieser Vorgänge ihre letzten Auswirkungen manifestierten, hatte er von ihren Folgen keine Ahnung, und sie waren ihm auch völlig gleichgültig. Was er mir gab, gab er mir mit der Einstellung eines höflichen Sie-können’s-nehmen-oder-lassen. Nach dem Warum sollte ich nicht fragen. Dem Drehbuch folgen, Lew, dem Drehbuch folgen.

Ich folgte dem Drehbuch.

Meine politischen Ambitionen nahmen allmählich den Charakter einer göttlichen Mission an: Mit Hilfe von Carvajals Gabe und Quinns Charisma würde ich in der Lage sein, die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln; näher bestimmt war das Ideal nicht. Ich spürte die vibrierenden Fäden der Macht in meinem Griff. Während ich vorher Quinns Präsidentschaft als ein in sich selbst gültiges Ziel betrachtet hatte, wurde ich in meinen Plänen für eine Welt, die von der Fähigkeit des Sehens gelenkt werden würde, nun praktisch zum Utopier. Ich dachte nicht mehr in Begriffen der Manipulation, der Verschiebung von Motivationen, politischer Machenschaften, es sei denn, sie standen im Dienste des höheren Zieles, für das ich mich arbeiten sah.