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»Das ist er!« schreit jemand.

Ich sehe mich wieder in jenem großen Flugzeug, und wir gleiten auf die sechseckige künstliche Insel zu.

»Paß auf!« ruft eine Frau dicht neben mir.

Die Soldaten marschieren in finsteren Kolonnen durch die Straßen. Vor dem Gebäude, in dem ich lebe, halten sie an.

Die Brandung ist stürmisch heute. Graue Wogen türmen sich auf und brechen, türmen sich auf und brechen. Und dennoch wate ich hinaus, ich erzwinge mir meinen Weg durch die Brandung, ich schwimme mit wahnwitziger Hingabe dem Horizont entgegen.

»Das ist er!« schreit jemand.

Sundara und ich sehen zu, wie Nacht sich über den Pazifik senkt. Die Lichter von Santa Monica funkeln vor uns.

Ich stehe an einer Brüstung, achtzig Stockwerke hoch über dem Broadway. Mit einer raschen, leichten Bewegung stoße ich mich hinaus in die kühle Frühlingsluft.

»Das ist er!« schreit jemand.

Und so — wieder und immer wieder — kommt der Tod zu mir, in vielerlei Gestalt. Die Szenen wiederholen sich, bleiben sich selbst gleich, widersprechen und heben sich gegenseitig auf. Welche Vision ist die wahre? Was ist mit jenem alten Mann, der friedlich in seinem Krankenbett verdämmert? Was soll ich glauben? Ich bin betäubt von einer Überdosis empfangener Daten; ich taumle umher in fiebriger Schizophrenie, sehe mehr, als ich fassen kann, begreife nichts, und immer weiter überschwemmt mich mein zuckendes Hirn mit Szenen und Bildern. Ich falle auseinander. Ich kauere mich auf den Boden neben mein Bett, zittere, warte auf neue Konfusionen. Wie werde ich als nächstes zugrunde gehen? Auf der Folterbank? An einer Fleischvergiftung? Durch ein Messer in einer dunklen Garageneinfahrt? Was bedeutet dies alles? Was geschieht mit mir? Ich brauche Hilfe. Verzweifelt, verschreckt eile ich zu Carvajal.

43

Monate war es her, seitdem ich ihn zuletzt gesehen hatte, ein halbes Jahr, von Ende November bis Ende April, und er hatte offensichtlich einige Veränderungen durchgemacht. Er wirkte kleiner, fast puppenhaft, eine Miniatur seines alten Selbst, alles Überflüssige war abgeschält, die Haut straff über seine Backenknochen zurückgezogen. Seine Farbe hatte einen eigenartigen Gelbstich, als verwandle er sich in einen ältlichen Japaner, in einen jener ausgedörrten kleinen Alten in blauen Anzügen und Fliegen, die man manchmal ruhig neben den Börsentelegrafen in den Maklerfirmen des Finanzdistrikts sitzen sieht. Und auch eine ungewohnte orientalische Ruhe war an ihm, eine Buddha-Ruhe, die auszudrücken schien, daß er ein Land jenseits aller Stürme erreicht habe, und dieser Friede war, glücklicherweise, ansteckend: Wenige Augenblicke, nachdem ich voller Verwirrung und Panik angekommen war, wich die aufgestaute Spannung schon von mir. Freundlich geleitete er mich zu einem Sessel in seinem schaurigen Wohnzimmer, freundlich brachte er mir das traditionelle Glas Wasser.

Er wartete darauf, daß ich zu reden begänne.

Wie anfangen? Was sagen? Ich beschloß, unser letztes Gespräch vollständig zu übergehen und meine Wut, meine Anklagen, den Abbruch meiner Beziehung zu ihm gar nicht erst zu erwähnen. »Ich habe gesehen«, platzte ich heraus.

»Ja?« Spöttisch, ohne Überraschung, leicht gelangweilt.

»Beunruhigende Sachen.«

»Oh?«

Carvajal musterte mich ohne Neugier, wartete, wartete. Wie ruhig er war, wie er völlig in sich selbst ruhte! Wie eine Schnitzerei aus Elfenbein, schön, glänzend, reglos.

»Gespenstische Szenen. Melodramatisch, chaotisch, widersprüchlich, bizarr. Ich weiß nicht, was davon Hellsehen und was Schizophrenie ist.«

»Widersprüchlich?« fragte er.

»Manchmal. Ich kann mich nicht auf das verlassen, was ich sehe.«

»Was für Sachen?«

»Quinn, zum einen. Ich sehe ihn fast täglich. Quinn als Tyrann, als Diktator, als eine Art Ungeheuer, der das ganze Land manipuliert, nicht so sehr Präsident als vielmehr Generalissimo. Sein Gesicht liegt über der ganzen Zukunft. Quinn dies, Quinn das, alle reden über ihn, alle fürchten ihn. Das kann nicht die Wirklichkeit sein.«

»Alles, was Sie sehen, ist wirklich.«

»Nein. Das ist nicht der wirkliche Quinn. Das ist eine Wahnvorstellung. Ich kenne Paul Quinn.«

»Kennen Sie ihn wirklich?« fragte Carvajal, seine Stimme kam aus einer Entfernung von fünfzigtausend Lichtjahren.

»Hören Sie, ich habe den Mann verehrt und war zutiefst für ihn engagiert. Im wahren Sinne des Wortes habe ich ihn geliebt, und das, wofür er stand. Warum habe ich diese Visionen von ihm als Diktator? Warum habe ich plötzlich Angst vor ihm? Er ist nicht so. Ich weiß es.«

»Alles, was Sie sehen, ist wirklich«, wiederholte Carvajal.

»Dann steht diesem Land eine Quinn-Diktatur bevor?«

Carvajal zuckte die Achseln. »Vielleicht. Sehr gut möglich. Wie soll ich das wissen?«

»Und ich? Wie kann ich glauben, was ich sehe?«

Carvajal lächelte und streckte eine Hand in die Höhe, die Handfläche mir zugewandt. »Glauben Sie«, drängte er in dem müden, spöttischen Tonfall eines alten mexikanischen Priesters, der einem gepeinigten Jungen rät, Vertrauen in die Güte der Engel und die Liebe der Jungfrau zu haben. »Zweifeln Sie nicht. Glauben Sie.«

»Ich kann nicht. Es gibt zu viele Widersprüche.« Ich schüttelte rabiat den Kopf. »Es geht nicht nur um die Quinn-Versionen. Ich habe auch meinen eigenen Tod gesehen.«

»Ja, das stand zu erwarten.«

»Viele Male. In vielen verschiedenen Formen. Ein Flugzeugabsturz. Ein Selbstmord. Eine Herzattacke. Tod durch Ertrinken, durch Erschießen. Und noch mehr.«

»Sie finden das sonderbar, eh?«

»Sonderbar? Ich finde es absurd. Welcher ist der wirkliche?«

»Alle sind wirklich.«

»Das ist verrückt!«

»Es gibt viele Ebenen der Wirklichkeit, Lew.«

»Sie können nicht alle wirklich sein. Das verstößt gegen alles, was Sie mir über die eine feste und unabänderliche Zukunft gesagt haben.«

»Es gibt eine Zukunft, die eintreten muß«, sagte Carvajal. »Und viele, die nicht eintreten. In den Anfangsstadien des Sehens ist der Geist noch nicht richtig eingestellt, und die Wirklichkeit wird mit Halluzinationen verunreinigt, der Geist wird mit unwesentlichen Daten bombardiert.«

»Aber…«

»Vielleicht gibt es viele Zeitlinien«, sagte Carvajal. »Eine wahre und viele potentielle, verhinderte Linien, die nur im grauen Grenzland der Wahrscheinlichkeit existieren. Manchmal drängt sich Information aus diesen Zeitlinien in unseren Geist, wenn er offen genug ist, verletzlich genug. Ich habe das erlebt.«

»Davon haben Sie nie ein Wort gesagt.«

»Ich wollte Sie nicht verwirren, Lew.«

»Aber was soll ich machen? Was nützen mir die Informationen, die ich erhalte? Wie unterscheide ich echte Visionen von eingebildeten?«

»Haben Sie Geduld. Die Dinge werden sich klären.«

»Wann?«

»Haben Sie eine Ihrer Todesszenen mehr als einmal gesehen?«

»Ja.«

»Welche?«

»Ich habe jede mindestens zweimal gesehen.«

»Aber eine öfter als alle anderen?«

»Ja«, sagte ich. »Die erste. Ich liege als alter Mann in einem Krankenhaus, allerhand komplizierte medizinische Apparate umgeben mein Bett. Diese Szene kommt häufig.«

»Mit besonderer Intensität?«

Ich nickte.

»Der können Sie trauen«, sagte Carvajal. »Die anderen sind Phantome. Sie werden Sie nicht mehr lange plagen. Die unechten Visionen haben eine fiebrige, wesenlose Qualität. Sie flackern und verschwimmen an den Rändern. Wenn Sie sie genau ansehen, wird Ihr Blick sie durchdringen und die Leere dahinter erkennen. Bald verschwinden sie. Es ist dreißig Jahre her, Lew, daß mich solche Dinge beschäftigt haben.«