Das Glühen selbst kam von der anderen Seite der Stadt und viele grimmige und große Gebäude hoben sich schwarz davor ab. Doch es warf sein Licht auch über viele Straßen, die von der Stadt zum Schloss führten. Und in diesen Straßen gingen sehr seltsame Dinge vor sich. Die dichten, schweigenden Gruppen von Erdmännern waren verschwunden. Stattdessen rannten Gestalten einzeln, zu zweit oder zu dritt herum. Sie verhielten sich wie Leute, die nicht gesehen werden wollen: Sie lauerten im Schatten von Pfeilern oder Türeingängen und rannten dann rasch über freies Gelände zum nächsten Versteck. Aber für denjenigen, der die Gnome kannte, war das Eigenartigste von allem der Lärm. Aus allen Richtungen ertönten Schreie und Rufe. Und vom Hafen her kam ein tiefes rollendes Brausen, das fortwährend lauter wurde und schon jetzt die ganze Stadt zum Erbeben brachte.
»Was ist nur mit den Erdmännern los?«, fragte Eustachius. »Sind sie es, die da so schreien?«
»Das ist kaum möglich«, erwiderte der Prinz. »Ich habe während all der beschwerlichen Jahre meiner Gefangenschaft nicht erlebt, dass einer dieser Halunken die Stimme erhoben hätte. Es ist zweifellos eine neue Teufelei.«
»Und was ist das rote Licht da drüben?«, fragte Jill. »Brennt dort etwas?«
»Wenn ihr mich fragt«, meinte Trauerpfützler, »dann würde ich sagen, es sei das Feuer aus dem Erdinnern, das hervorbricht, um einen neuen Vulkan zu bilden. Es sollte mich nicht wundern, wenn wir uns genau in seiner Mitte befänden.«
»Schaut euch dieses Schiff an!«, sagte Eustachius. »Warum nähert es sich so schnell? Die Ruder sind nicht besetzt!«
»Seht! Seht!«, rief der Prinz. »Das Schiff ist schon weit vom Hafen entfernt und kommt immer näher auf uns zu – es fährt auf der Straße! Seht! Alle Schiffe fahren in die Stadt herein! Bei meinem Kopf – das Meer steigt! Die Flut kommt über uns! Dem Löwen sei gedankt, dass dieses Schloss erhöht steht. Aber das Wasser steigt schrecklich schnell!«
»Oh, was mag da nur los sein?«, rief Jill. »Feuer, Wasser und all die Leute, die in den Straßen herumrennen!«
»Ich sage dir, was da los ist«, erklärte Trauerpfützler. »Die Hexe hat einen Zauber über das Land gelegt, damit ihr ganzes Königreich zusammenbricht, falls sie getötet wird. Sie gehört zu denen, welchen es nichts ausmacht, zu sterben, sofern sie sicher sind, dass derjenige, der sie umbringt, fünf Minuten später verbrannt, verschüttet oder ertränkt wird.«
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, mein lieber Wackler«, sagte der Prinz. »Als unser Schwert den Kopf der Hexe abtrennte, war es mit ihrer Zauberkraft zu Ende und jetzt zerbricht das Land der Tiefe in Stücke. Wir sehen das Ende von Unterland vor uns.«
»Ganz recht, Herr«, erwiderte Trauerpfützler. »Wenn es nicht zufällig das Ende der ganzen Welt ist.«
»Aber wollen wir denn einfach hier bleiben und abwarten?«, keuchte Jill.
»Das würde ich nicht raten«, entgegnete der Prinz. »Ich möchte mein Pferd Kohlschwarz retten und auch das der Hexe, Schneeflocke – ein edles Tier, das eine bessere Herrin verdient hat –, die beide in ihrem Stall im Schlosshof stehen. Danach sollten wir uns in Eile höher hinaufbegeben und einen Ausgang finden. Die Pferde können zur Not jeweils zwei Personen tragen, und wenn wir sie anspornen, gelingt es ihnen vielleicht, das Wasser hinter sich zu lassen.«
»Wollt ihr keine Rüstung anlegen, Hoheit?«, fragte Trauerpfützler. »Die da gefallen mir gar nicht« – und er zeigte hinunter zur Straße. Dutzende Gestalten kamen vom Hafen herauf, und jetzt, wo sie sich näherten, sah man, dass es offensichtlich Erdmänner waren. Sie bewegten sich nicht wie eine Gruppe von Leuten, die kein bestimmtes Ziel hat. Sie benahmen sich wie Soldaten beim Angriff, stießen vor und nahmen dann wieder Deckung, vorsichtig darauf bedacht, von den Fenstern des Schlosses aus nicht gesehen zu werden.
»Ich wage es nicht, diese Rüstung noch einmal anzulegen«, erklärte der Prinz. »Ich bin darin geritten wie in einem transportablen Kerker und sie trägt den Gestank von Zauberei und Sklaverei in sich. Aber ich werde meinen Schild nehmen.«
Er verließ den Raum und kehrte einen Augenblick später wieder zurück, mit einem eigenartigen Leuchten in den Augen.
»Seht, Freunde«, rief er und streckte ihnen den Schild entgegen. »Vor einer Stunde war er noch über und über schwarz; schaut, wie er jetzt aussieht.« Der Schild war strahlend hell wie Silber und in leuchtendem Rot, rot wie Kirschen oder Blut, trug er das Abbild des Löwen.
»Dies bedeutet ohne Zweifel, dass Aslan unser Führer sein wird, möge er uns in den Tod oder ins Leben führen«, sagte der Prinz. »Und was das betrifft, so ist beides dasselbe. Nun – ich schlage vor, wie knien uns alle nieder und küssen sein Abbild. Dann schütteln wir uns die Hände wie treue Freunde, die sich bald trennen müssen. Und dann wollen wir in die Stadt hinabsteigen zu dem Abenteuer, das uns erwartet.«
Und alle taten, was der Prinz vorgeschlagen hatte. Doch als Eustachius Jills Hand schüttelte, sagte er: »Leb wohl, Jill. Tut mir Leid, dass ich so feige und so ekelhaft war. Ich hoffe, du kommst gut nach Hause«, und Jill sagte: »Leb wohl, Eustachius. Es tut mir Leid, dass ich so eine blöde Kuh war.«
Der Prinz schloss die Tür und sie gingen die Treppe hinunter: der Prinz, Trauerpfützler und Eustachius mit gezogenen Schwertern und Jill mit gezücktem Messer. Doch die Dienstboten waren verschwunden und das große Zimmer am Fuß der Treppe war verlassen. Die grauen, trübseligen Lampen brannten noch und in ihrem Licht gingen sie ohne Schwierigkeiten von einem Gang zum nächsten und stiegen eine Treppe nach der anderen hinab. Den Lärm von draußen hörte man hier nicht ganz so wie von dem Zimmer oben. Im Haus selbst war alles totenstill und verlassen. Erst als sie um eine Ecke bogen und die große Halle im Erdgeschoss betraten, trafen sie den ersten Erdmann – ein fettes, weißliches Geschöpf (mit einem Gesicht, das große Ähnlichkeit mit dem eines Schweinchens hatte), das gerade alle Speisereste auf den Tischen verschlang. Es quiekte (auch dieses Quieken war dem eines Schweinchens sehr ähnlich) und rannte unter eine Bank, wobei es blitzschnell seinen langen Schwanz aus der Reichweite Trauerpfützlers zog. Dann lief es so schnell durch die Tür an der gegenüberliegenden Seite, dass eine Verfolgung zwecklos war.
Von der Halle kamen sie hinaus auf den Schlosshof. Jill, die in den Ferien eine Reitschule besuchte, war gerade der Stallgeruch aufgefallen (und an einem Ort wie Unterland ist das ein sehr schöner, ehrlicher, heimeliger Geruch), als Eustachius sagte: »Großer Gott! Schaut euch das an!« Irgendwo hinter den Schlossmauern war ein prächtiger Feuerwerkskörper aufgestiegen und hatte sich in grüne Sternchen aufgelöst.
»Ein Feuerwerk!«, rief Jill verwirrt.
»Ja«, sagte Eustachius, »aber ihr meint doch wohl nicht, dass diese Erdmänner es aus Spaß abgeschossen haben? Es ist ein Signal!«
»Und bestimmt bedeutet es für uns nichts Gutes!«, meinte Trauerpfützler.
»Freunde«, sagte der Prinz, »wenn man an einem solchen Abenteuer teilnimmt, muss man alle Hoffnungen und Ängste aufgeben, noch bevor man umkommt oder gerettet wird. – He, meine Schönen!« (Er öffnete gerade die Stalltür.) »He, ihr beiden! Ruhig, Kohlschwarz! Sachte, Schneeflocke! Ihr seid nicht vergessen!«
Die beiden Pferde waren durch die seltsamen Lichter und die Geräusche sehr verschreckt. Jill, die bei dem Durchgang zwischen den beiden Höhlen so ängstlich gewesen war, ging ohne Furcht zu den stampfenden und schnaubenden Pferden hinein und sie und der Prinz hatten die beiden schon nach ein paar Minuten gezäumt und gesattelt. Sie sahen sehr schön aus, als sie mit zurückgeworfenem Kopf in den Schlosshof herauskamen. Jill bestieg Schneeflocke und Trauerpfützler saß hinter ihr auf. Eustachius schwang sich hinter dem Prinzen auf Kohlschwarz. Dann ritten sie mit lautem Hufgeklapper durch das Haupttor hinaus auf die Straße.
»Wir brauchen keine Angst zu haben, dass wir verbrennen. Das ist das Schöne daran«, meinte Trauerpfützler und deutete nach rechts. Dort, kaum hundert Meter entfernt, schwappte Wasser gegen die Hauswände.