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»Mut!«, sagte der Prinz. »Die Straße dort führt steil nach unten. Das Wasser steht nur bis zur halben Höhe des höchsten Hügels der Stadt. Zwar dürfte es in der ersten halben Stunde schon so hoch gestiegen sein, wie es jetzt steht, doch vielleicht steigt es in den nächsten zwei Stunden auch nicht mehr höher. Vor denen da habe ich mehr Angst ...« Und er deutete mit seinem Schwert auf einen kräftigen, großen Erdmann mit Eberhauern, dem sechs weitere in den unterschiedlichsten Gestalten und Formen folgten. Sie alle waren gerade aus einer Seitenstraße herausgerannt und waren im nächsten Moment im Schatten der Häuser wieder verschwunden.

Der Prinz ritt voraus auf die rote Feuersglut zu, doch er hielt sich ein wenig links davon. Er hatte vor, um das Feuer herumzureiten und höher gelegenes Gelände zu erreichen, in der Hoffnung, den Weg zu dem neu gegrabenen Gang nach oben zu finden. Im Gegensatz zu den anderen schien ihm das Ganze fast Spaß zu machen. Er pfiff beim Reiten und er sang Bruchstücke eines alten Liedes über Corin Donnerfaust aus Archenland. Er war so froh, von seiner lang währenden Verzauberung erlöst zu sein, dass ihm im Vergleich dazu alle Gefahren wie ein Spiel vorkamen. Doch für die anderen war der Ritt recht unheimlich.

Hinter sich hörten sie das Aufeinanderprallen ineinander verkeilter Schiffe und das Poltern einstürzender Gebäude. Über sich an der Decke der Unterwelt sahen sie den mächtigen Fleck des gespenstischen Lichts. Vor ihnen war das geheimnisvolle Glühen, das nicht größer zu werden schien. Aus der gleichen Richtung erklangen unentwegt Rufe und Schreie, Katzengekreische, Gelächter, Gequieke und Gebell; und alle möglichen Feuerwerkskörper stiegen hinauf in die Dunkelheit. Keiner wusste, was diese Feuerwerkskörper zu bedeuten hatten. In der Nähe der vier Wanderer war die Stadt teilweise von dem roten Glühen und teilweise von dem völlig andersartigen Licht der trüben Gnomlampen beleuchtet. Aber es gab viele Stellen, wohin gar kein Licht fiel, und dort war es pechschwarz. Dort huschten ununterbrochen Erdmänner hin und her, die Augen immer auf die Reisenden gerichtet und immer bemüht nicht gesehen zu werden. Dort gab es große Gesichter und kleine Gesichter, riesige Augen wie die von Fischen und kleine Augen wie die von Bären. Da gab es Federn und Stacheln, Hörner und Stoßzähne, Nasen, die aussahen wie Peitschenschnüre, und Kinne, so lang, dass sie aussahen wie ein Bart. Immer wieder tauchte eine größere Gruppe von Erdmännern auf; kamen sie zu nah, zog der Prinz jedes Mal sein Schwert und tat so, als wollte er sich auf sie stürzen. Und dann rannten die Geschöpfe mit den verschiedensten Rufen, Quieksern und Gluckslauten in der Dunkelheit davon.

Aber als sie durch viele Straßen hinaufgestiegen waren, das Wasser weit zurückgelassen hatten und auch die Stadt schon fast hinter ihnen lag, begann es ernster zu werden. Sie waren jetzt ganz in der Nähe des roten Glühens und befanden sich fast auf gleicher Höhe mit ihm, doch sie konnten noch immer nicht erkennen, was es war. Aber in seinem Licht konnten sie ihre Feinde genauer betrachten. Hunderte – vielleicht auch Tausende – von Gnomen bewegten sich auf das Glühen zu. Aber sie rannten immer nur ein kurzes Stück. Und wenn sie dann anhielten, drehten sie sich um und sahen zu den Reisenden zurück.

»Wenn mich Eure Hoheit fragen sollte«, meinte Trauerpfützler, »so würde ich sagen, dass diese Kerle vorhaben uns den Weg abzuschneiden.«

»Das habe ich mir auch gedacht, Trauerpfützler«, erwiderte der Prinz. »Und wir können uns niemals durch so viele von ihnen einen Weg bahnen. Hör zu: Wir reiten eng an der Mauer jenes Hauses entlang. Und sofort, wenn wir dort ankommen, steigst du ab und versteckst dich im Schatten des Gebäudes. Die Dame und ich werden ein paar Schritte weiterreiten. Einige der Halunken werden uns zweifellos folgen: Sie sind dicht hinter uns. Du mit deinen langen Armen nimmst einen davon gefangen, während er an dir vorbeischleicht. Dann erfahren wir vielleicht, was sie gegen uns im Schilde führen.«

»Aber werden sich nicht alle anderen auf uns stürzen um den Gefangenen zu befreien?«, fragte Jill, deren Stimme nicht sehr fest war, obwohl sie dies zu verbergen versuchte.

»Dann, mein Fräulein«, antwortete der Prinz, »wirst du uns im Kampf sterben sehen und du musst dich dem Löwen anvertrauen. Los, guter Trauerpfützler.«

So flink wie eine Katze schlüpfte der Moorwackler in den Schatten. Die anderen ritten eine schreckliche Minute lang oder so im Schritt weiter. Dann ertönten von hinten plötzlich Schreie, die einem fast das Blut in den Adern gerinnen ließen. Dazwischen hörte man die vertraute Stimme Trauerpfützlers, der sagte: »So! Du brauchst nicht zu schreien, bevor man dir etwas tut, sonst tut man dir wirklich etwas! Man könnte meinen, ein Schwein wäre abgestochen worden!«

»Das war ein guter Fang«, rief der Prinz. Er wendete sofort sein Pferd Kohlschwarz und kam zur Ecke des Hauses zurück. »Eustachius, sei so gut und halte den Kopf meines Pferdes.« Dann stieg er ab und alle drei sahen schweigend zu, wie Trauerpfützler seinen Fang ans Licht zog. Es war ein absolut jämmerlicher Gnom, kaum einen Meter groß. Er hatte eine Art Wulst auf dem Kopf, so ähnlich wie ein Hahnenkamm (nur war er hart), kleine rötliche Augen und sein Mund und sein Kinn waren so rund und so groß, dass sein Gesicht aussah wie das von einem Miniaturwalross. Hätten die Wanderer sich nicht in einer derartigen Klemme befunden, wären sie bei seinem Anblick in Gelächter ausgebrochen.

»Nun, Erdmann«, sagte der Prinz. Er stand über dem Gefangenen und hielt die Schwertspitze auf dessen Hals gerichtet. »Sprich wie ein ehrlicher Gnom, dann erhältst du deine Freiheit zurück. Wenn du aber ein falsches Spiel mit uns spielst, ist dir der Tod gewiss! Guter Trauerpfützler, wie kann er reden, solange du ihm den Mund so fest zuhältst?«

»Nein, reden kann er so nicht – beißen aber auch nicht«, erklärte Trauerpfützler. »Wenn ich so lächerlich weiche Hände hätte wie ihr Menschen – ich bitte um Vergebung, Euer Gnaden –, wäre ich inzwischen blutüberströmt. Und selbst ein Moorwackler hat irgendwann einmal genug davon, dass man auf ihm herumkaut.«

»Bürschchen!«, sagte der Prinz zu dem Gnom. »Noch ein Biss und du bist des Todes. Nimm die Hand weg, Trauerpfützler!«

»Oh-ii-ii!«, quiekte der Erdmann. »Lasst mich gehen, lasst mich gehen! Ich war es nicht! Ich habe es nicht getan!«

»Was hast du nicht getan?«, fragte Trauerpfützler.

»Was immer ich Eurer Meinung nach getan haben soll«, antwortete das Geschöpf.

»Sag mir deinen Namen«, befahl der Prinz, »und was ihr Erdmänner heute im Schild führt.«

»O bitte, Hoheiten, bitte, liebe Herren«, winselte der Gnom. »Versprecht mir, Ihrer Hoheit der Königin nichts von dem zu verraten, was ich Euch sage.«

»Ihre Hoheit die Königin, wie du sie nennst, ist tot. Ich selbst habe sie getötet.«

»Was?«, rief der Gnom und riss seinen lächerlichen Mund vor Staunen weit und immer noch weiter auf. »Tot? Die Hexe ist tot? Und von der Hand Eurer Hoheit?« Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und fügte hinzu: »Dann seid Ihr ja ein Freund!«

Der Prinz zog sein Schwert ein paar Zentimeter zurück. Trauerpfützler gestattete es dem Gnom, sich aufzusetzen. Der schaute die vier Reisenden mit seinen blinzelnden roten Augen an, lachte ein- oder zweimal vor sich hin und dann erzählte er.

14. Der tiefste Punkt der Welt

»Mein Name ist Golg«, begann der Gnom. »Und ich werde euch alles sagen, was ich weiß. Vor etwa einer Stunde gingen wir alle traurig und still unserer Arbeit nach – ihrer Arbeit, müsste ich eigentlich sagen –, ganz so, wie wir es seit vielen Jahren Tag für Tag tun. Dann gab es plötzlich ein furchtbares Krachen und einen Schlag. Gleich darauf sagt sich jeder von uns: Ich habe schon ewig nicht mehr gesungen oder getanzt oder ein Späßchen gemacht. Warum wohl nicht? Und jeder denkt sich: Ich muss wohl verzaubert gewesen sein. Und dann sagt sich jeder: Ich will verdammt sein, wenn ich weiß, warum ich diese Last herumtrage, und jetzt reicht es mir, ich trage sie nicht mehr weiter. Und dann werfen wir alle unsere Säcke und Bündel und Werkzeuge weg. Dann dreht sich jeder um und sieht das rote Glühen da drüben. Und alle fragen sich: Was ist das? Und jeder gibt sich die Antwort selbst und sagt: Da hat sich eine Spalte oder eine Kluft aufgetan und da kommt ein schönes warmes Glühen aus dem wirklichen Land der Tiefe, das tausend Klafter unter uns liegt.«