»Welches Ziel hat diese Expedition?«
Ramses zögerte, verbarg sich hinter dieser einfachen Frage vielleicht eine Falle?
»Türkise heimzubringen für die Götter.«
»Sind sie unerläßlich für den Wohlstand des Landes?«
»Nein, aber wie könnten wir ihrer Schönheit entsagen?«
»Gewinn soll nicht unseren Reichtum begründen, er würde ihn von innen her zerstören. Erkenne in jedem Wesen und in jedem Ding das, was seinen Ruhm ausmacht, das heißt seine Beschaffenheit, seinen Wert, seine Ausstrahlung und seinen Geist. Suche, was sich nicht ersetzen läßt.«
Ramses war, als dringe ein Licht in ihn ein, das seinem Herzen Kraft verlieh. Sethos’ Worte prägten sich ihm ein für ewig.
»Der Kleine wie der Große erhalte vom Pharao seinen Lebensunterhalt, und die Zuteilung muß gerecht sein. Vernachlässige nicht den einen auf Kosten des anderen, wisse sie zu überzeugen, daß die Gemeinschaft wichtiger ist als der einzelne. Was dem Bienenstock nutzt, nutzt der Biene, und die Biene hat dem Bienenstock, dem sie ihr Leben verdankt, zu dienen.«
Die Biene, sie war eines der Schriftzeichen für den Pharao! Sethos sprach über die Ausübung des höchsten Amtes, und nach und nach enthüllte er Ramses die Geheimnisse des ägyptischen Königtums.
Erneut befiel ihn Schwindel.
»Erzeugen ist wichtig«, fuhr Sethos fort, »verteilen noch wichtiger. Ein Überfluß an Reichtümern auf Seiten einer Kaste zieht Unglück und Zwietracht nach sich, eine gerecht verteilte kleine Menge spendet Freude. Die Geschichte einer Regentschaft soll eine Geschichte von Festlichkeit sein. Damit dies gelingt, darf kein Bauch Hunger leiden. Beobachte, mein Sohn, laß nicht ab, beobachte gut. Denn wenn du nicht zum Seher wirst, wirst du den Sinn meiner Worte nicht erkennen.«
Ramses verbrachte eine schlaflose Nacht, er starrte auf eine blaue Gesteinsader, die am Rande der Hochebene zutage trat. Er bat Hathor, die Finsternis zu zerstreuen, in der er sich verfangen hatte und nicht mehr wog als ein Strohhalm.
Sein Vater verfolgte einen genauen Plan, aber welchen? Ramses hatte aufgehört, an eine Zukunft als König zu glauben. Aber wieso beschenkte Sethos, der doch berühmt dafür war, mit Vertraulichkeiten zu geizen, ihn mit Lehrsätzen wie diesen? Moses hätte die Absichten des Herrschers vielleicht eher begriffen, aber er als Prinz mußte allein kämpfen und seinen eigenen Weg entwerfen.
Kurz vor Morgengrauen trat ein Schatten aus dem Hauptstollen. Ohne das Licht des sterbenden Mondes hätte Ramses an die Erscheinung eines Dämons geglaubt, der es eilig hatte, in ein anderes Schlupfloch zu flüchten. Aber dieser Dämon hatte eine menschliche Gestalt und preßte einen Gegenstand an sich.
»Wer bist du?«
Der Mann blieb kurz stehen, wandte den Kopf in Richtung des Prinzen und lief dann zum abschüssigen Teil des Plateaus, wo die Grubenarbeiter nur eine Bauhütte erstellt hatten.
Ramses heftete sich dem Flüchtenden an die Fersen.
»Bleib stehen!«
Der Mann lief schneller, Ramses ebenfalls. Er gewann an Boden und erreichte die fremde Gestalt kurz vor dem Steilhang.
Der Prinz machte einen Satz und packte ihn an den Beinen. Der Dieb stürzte, ohne seine Beute loszulassen, griff mit der Linken nach einem Stein und versuchte, seinem Angreifer den Schädel einzuschlagen. Mit einem Ellbogenhieb in den Brustkasten verschlug Ramses ihm den Atem. Dem Mann gelang es trotzdem, sich aufzurichten, doch er verlor das Gleichgewicht und stürzte rücklings.
Min Schmerzensschrei, dann noch einer und dann das Geräusch eines von Fels zu Fels stürzenden Körpers, der unten am Hang liegenblieb.
Als Ramses bei ihm ankam, war der Mann tot, aber den Sack voller Türkise preßte er nach wie vor gegen seine Brust.
Dieser Dieb war kein Unbekannter. Es war der Wagenlenker, der Ramses bei der Wüstenjagd in die Falle gelockt hatte, die ihn das Leben hatte kosten sollen.
SECHSUNDZWANZIG
Kein grubenarbeiter kannte den Dieb. Es war seine erste Expedition gewesen, und er hatte sich mit niemandem angefreundet. Er war ein harter Arbeiter gewesen, hatte Stunden in den unzugänglichsten Stollen verbracht und sich Achtung bei den Kameraden erworben.
Der Diebstahl von Türkisen stand unter schwerer Strafe, aber ein solches Verbrechen war seit Urzeiten nicht begangen worden. Die Expeditionsteilnehmer beklagten den Tod des Schuldigen nicht. Das Gesetz der Wüste hatte eine gerechte Strafe verhängt. Wegen seiner schweren Schuld wurde der Wagenlenker ohne Totenfeier beerdigt. Das bedeutete, daß sein Mund und seine Augen nicht offen in der anderen Welt wären, und die vielen Pforten würde er nicht durchwandern können und somit ein Opfer des verschlingenden Ungeheuers werden.
»Wer hat diesen Mann eingestellt?« fragte Ramses Moses.
Der Hebräer sah seine Listen durch.
»Ich.«
»Wie, du?«
»Der Harimsleiter hat mir mehrere Arbeiter empfohlen, die für diese Arbeit geeignet sind. Daher habe ich nur noch unterschrieben.«
Ramses atmete auf.
»Dieser Dieb war der Wagenlenker, der den Auftrag erhalten hatte, mich in den Tod zu befördern.«
Moses wurde aschfahl.
»Du hast doch nicht etwa vermutet…«
»Keine Sekunde, aber auch du bist in eine Falle getappt.«
»Der Harimsleiter? Der ist ein Schwächling, den der geringste Zwischenfall in Angst versetzt.«
»Um so leichter ist er zu beeinflussen. Ich möchte so bald wie möglich nach Ägypten zurück, Moses, und herausfinden, wer sich hinter diesem Strohmann verbirgt.«
»Hast du nicht Abstand genommen vom Weg zur Macht?«
»Das spielt keine Rolle, ich will die Wahrheit wissen.«
»Selbst wenn sie unangenehm für dich wäre?«
»Weißt du vielleicht Genaueres?«
»Nein, nichts, das schwöre ich dir. Aber wer sollte es denn wagen, den jüngeren Sohn des Pharaos zur Zielscheibe zu nehmen?«
»Vielleicht mehr Menschen, als du dir vorstellen kannst.«
»Wenn es eine Verschwörung ist, wird der Anstifter im dunkeln bleiben.«
»Gibst du jetzt schon auf, Moses?«
»Dieser Irrsinn betrifft uns doch nicht. Da du Sethos nicht nachfolgst, wer sollte dir dann noch schaden wollen?«
Ramses sagte seinem Freund nichts vom Inhalt seiner Gespräche mit seinem Vater. Waren sie nicht ein Geheimnis, das er zu wahren hatte, solange er ihre Bedeutung nicht verstand?
»Wirst du mir beistehen, Moses, wenn ich dich brauche?«
»Wieso fragst du so etwas?«
Trotz des Vorfalls änderte Sethos nichts am Ablauf der Expedition. Als dem König die dem Berg entlockte Zahl von Türkisen ausreichend erschien, gab er das Zeichen zur Heimkehr nach Ägypten.
Der Oberste Palastwächter eilte im Laufschritt zum Audienzsaal der Königin. Tujas Bote hatte ihm die Vorladung der großen königlichen Gemahlin überbracht und ihm keinerlei Aufschub gewährt.
»Hier bin ich, Majestät.«
»Wie steht es mit den Nachforschungen?«
»Ja, aber… sie waren doch abgeschlossen!«
»Tatsächlich!«
»Mehr ist nicht herauszukriegen.«
»Sprechen wir über den Wagenlenker. Du sagtest doch, er sei tot?«
»Leider ja, dieser elende…«
»Wie konnte dieser Tote dann die Kraft finden, in die Türkissteinbrüche aufzubrechen und dort Steine zu entwenden?«
Der Beamte sackte in sich zusammen.
»Das ist – das ist unmöglich!«
»Hältst du mich für eine Lügnerin?«
»Majestät!«
»Es gibt Möglichkeiten: Entweder bist du bestochen worden oder unfähig, oder beides zusammen.«