Der Vizekönig zog sich zurück. Er hatte Schlimmeres befürchtet. Der Kommandant bereitete die Evakuierung vor, und zwei Stunden später zog eine lange Kolonne in Richtung Norden. In Shaat verblieben nur der Pharao, Ramses und tausend Soldaten, deren Kampfeslust schlagartig gesunken war. Man munkelte, zehntausend blutrünstige Nubier würden über die Zitadelle herfallen und die Ägypter bis zum letzten Mann aufreiben.
Sethos übertrug es Ramses, die Truppe aufzuklären, und der junge Mann ließ es nicht dabei bewenden, die tatsächliche Lage zu schildern und die Gerüchte zu zerstreuen, sondern appellierte an den Mut jedes einzelnen und die Verpflichtung zum Schutz des Landes unter Einsatz des eigenen Lebens. Er sprach in schlichten, eindringlichen Worten, und seine Begeisterung wirkte ansteckend. Als sie erfuhren, der Sohn des Königs werde mit ihnen kämpfen, schöpften die Soldaten neue Hoffnung. Ramses’ Ungestüm und Sethos’ lange Erfahrung als Feldherr würden sie vor dem Untergang bewahren.
Der König hatte entschieden, weiter gen Süden vorzudringen und nicht auf einen möglichen Angriff zu warten. Es schien ihm sinnvoller, Flagge zu zeigen und sich notfalls zurückzuziehen, falls der Gegner übermächtig war. So würde man zumindest Klarheit gewinnen.
Minen ganzen Abend lang studierte Sethos die Karte der Provinz Kusch und erklärte Ramses, wie die Aufzeichnungen der Landvermesser zu lesen waren. Der junge Mann strahlte, weil der Pharao ihm so viel Vertrauen schenkte. Er lernte sehr schnell und bemühte sich, seinem Gedächtnis jede Einzelheit einzuprägen. Was auch immer geschah, morgen würde ein glanzvoller Tag sein.
Sethos zog sich in den Raum der Festung zurück, der dem Herrscher vorbehalten war, während Ramses mit einem Notlager vorliebnehmen mußte. Lachen und Seufzen aus dem Nebenraum unterbrachen immer wieder seine Träume vom großen Sieg. Verdutzt stand er auf und öffnete die Tür zu der angrenzenden Kammer.
Setaou lag auf dem Bauch und genoß es sichtlich, daß sein Rücken von einer jungen nackten Nubierin mit geschickten Händen geknetet wurde. Sie hatte ein auffallend zartes Gesicht und einen herrlichen Körper. Ihre Haut schimmerte wie Ebenholz und ließ an thebanischen Adel denken. Sie war es, die da lachte, weil Setaou sein Wohlbehagen derart kundtat.
»Sie ist fünfzehn Jahre alt und heißt Lotos«, verriet der Schlangenkundige. »Wie keine andere beherrscht sie die Kunst, mit ihren Fingern den Rücken zu entspannen. Möchtest du ihre Begabung auch einmal erproben?«
»Dir eine so schöne Eroberung zu rauben müßte ich mir ja verargen!«
»Sie pflegt zudem mit den gefährlichsten Wirbeltieren furchtlosen Umgang. Mit vereinten Kräften haben wir bereits eine schöne Menge Gift zusammengetragen. Götter, welch ein Glück! Diese Expedition gefiel mir ja von Anfang an. Wie recht ich hatte, sie mir nicht zu versagen!«
»Morgen werdet ihr beide die Festung hüten.«
»Greifst du an?«
»Wir rücken vor.«
»Einverstanden, Lotos und ich werden Wächter spielen und uns bemühen, mindestens zehn Kobras zu fangen.«
Im Winter war es frühmorgens recht kühl, daher hatten die Fußtruppen ein langes Hemd übergezogen, das sie ablegen würden, sobald die nubische Sonne sie wärmte. An der Spitze des Zugs, gleich hinter den Spähern, stand Ramses in einem leichten Streitwagen, den er eigenhändig lenkte. Sethos, von seiner Leibgarde geschützt, befand sich in der Mitte seines Heeres.
Ein Trompetenstoß hallte durch die stille Steppe. Ramses ließ anhalten, sprang zu Boden und folgte den Spähern.
Ein gewaltiges Tier mit langem Rüssel brüllte vor Schmerzen, ein Wurfspieß steckte vorne im verjüngten Ende dieser unglaublich langen Nase. Das Tier trat um sich, es mußte diesen Dorn loswerden, der es schier wahnsinnig machte vor Schmerz. Es war ein Elefant. Jenes Tier, das in vergangenen Zeiten der Insel Elephantine, an der südlichen Grenze Ägyptens, seinen Namen verliehen hatte und dann von dort verschwunden war.
Der Prinz sah zum erstenmal einen Elefanten.
»Ein wahrer Riese«, erklärte einer der Männer, »jeder seiner Stoßzähne wiegt mindestens soviel wie ein ausgewachsener Mann. Geh bloß nicht näher an ihn heran!«
»Aber er ist doch verwundet!«
»Die Nubier haben ihn zu töten versucht und sind dann vor uns geflohen.«
Der Kampf stand also kurz bevor.
Während einer der Aufklärer zurücklief, um den König in Kenntnis zu setzen, ging Ramses vorsichtig auf den Elefanten zu. Etwa vierzig Ellen vor dem Riesen hielt er inne und suchte seinen Blick auf sich zu lenken. Das verwundete Tier hörte auf zu toben und beobachtete dieses winzige Lebewesen.
Ramses zeigte ihm seine leeren Hände. Das Tier hob den Rüssel, als wollte es kundtun, daß es die friedlichen Absichten des Zweibeiners begriffen hatte. Betont langsam näherte sich der Prinz.
Einer der Männer wollte laut schreien, doch ein anderer hielt ihm den Mund zu. Bei der geringsten Störung würde der Elefant den Sohn des Pharaos zertrampeln.
Ramses empfand keinerlei Furcht, der aufmerksame Blick des Vierbeiners verriet einen wachen Verstand. Er würde seine Absichten richtig deuten! Noch ein paar Schritte, und er war nur mehr zwei Ellen von dem verwundeten Tier entfernt.
Der Prinz hob die Arme, der Riese senkte den Rüssel.
»Ich werde dir weh tun«, erklärte Ramses, »aber das ist unumgänglich.«
Ramses packte den Schaft des Spießes.
»Bist du einverstanden?«
Die großen Ohren peitschten die Luft, als wollte der Elefant sein Einverständnis kundtun.
Der Prinz zog mit aller Kraft, und mit einem Ruck hatte er den Spieß tatsächlich heraus; der Riese brüllte erleichtert. Die sprachlosen Aufklärer glaubten an ein Wunder, aber Ramses würde dennoch nicht überleben, da das blutige Rüsselende sich bereits um seine Taille schlang.
Eine Weile nur, und er würde zermalmt sein. Dann wären sie an der Reihe, und da flohen sie doch lieber gleich.
»Schaut her, aber schaut doch bloß!«
Die fröhliche Stimme des Prinzen rief sie zurück. Sie wandten sich um und sahen, daß er bereits hoch oben auf dem Kopf des Riesen saß, wo der Rüssel ihn ganz behutsam abgesetzt hatte.
»Von diesem Berg aus werde ich jede Bewegung des Feindes erkennen können«, rief Ramses.
Die Heldentat des Prinzen begeisterte das Heer, und einige sprachen Ramses übernatürliche Kräfte zu, nachdem er sich das mächtigste aller Tiere gefügig gemacht hatte. Die Wunde des Tiers wurde regelmäßig mit Öl und Honig betupft, und Ramses und der Elefant hatten keine Schwierigkeiten, sich zu verständigen: der eine benutzte Zunge und Hände, der andere Rüssel und Ohren. Unter dem Schutz des Riesen, der ihnen eine Spur bahnte, gelangten die Soldaten in ein Dorf mit Hütten aus getrocknetem Schlamm und Palmdächern.
Die Leichen von Greisen, Kindern und Frauen lagen dort verstreut, die einen waren aufgeschlitzt, den anderen war die Kehle durchgeschnitten worden. Die verstümmelten Körper der Männer, die Widerstand geleistet hatten, lagen etwas weiter entfernt. Die Ernte war verbrannt worden, das Vieh geschlachtet.
Ramses drehte sich der Magen um.
So sah also der Krieg aus, dieses Gemetzel, diese grenzenlose Grausamkeit, der Mensch wütete ja schlimmer als das gefährlichste Raubtier.
»Trinkt nicht aus dem Brunnen!« rief ein älterer Soldat.
Zwei junge Männer hatten bereits ihren Durst gelöscht. Kurz darauf starben sie an dem Feuer, das in ihrem Leib entbrannte. Die Aufständischen hatten den Brunnen vergiftet, um die Dorfbewohner, die Ägypten treu bleiben wollten, zu strafen.
»Solche Vergiftungen kann ich nicht behandeln«, beklagte Setaou, »über Pflanzengifte muß ich mich erst noch kundig machen. Zum Glück habe ich Lotos, sie wird es mir beibringen.«
»Was machst du überhaupt hier?« fragte Ramses verwundert. »Solltest du nicht die Festung hüten?«