Sie zog sich an, eilte ins Bad zurück und gönnte sich für einige Augenblicke das Vergnügen, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Ihr bleiches Gesicht, die Ringe unter den Augen und die graue Strähne im Haar störten den Gesamteindruck ein wenig, aber alles in allem sah sie für eine eigentlich sechsundachtzigjährige Frau nicht schlecht aus.
Als sie den Raum verlassen wollte, erlebte sie die zweite unangenehme Überraschung des Tages: Die Tür ließ sich nicht öffnen.
Charity drückte ein halbes Dutzend Mal mit wachsendem Zorn auf den Knopf, ehe sie sich eingestand, daß der Mechanismus elektronisch gesperrt war. Nicht defekt - die Standby-Lampe brannte in beruhigendem Grün.
»Verdammt, was soll das?« sagte sie verärgert. Mit einem Ruck fuhr sie herum, trat an das Interkom-Gerät neben der Tür und drückte den Rufknopf. Der Bildschirm leuchtete so prompt auf, als hätte jemand am anderen Ende nur darauf gewartet, daß sie sich meldete, und die ausdruckslosen Facettenaugen einer Ameise starrten sie an.
Eine halbe Sekunde lang war Charity gelähmt vor Schrecken - obwohl sie nach allem, was geschehen war, eigentlich mit diesem Augenblick hätte rechnen müssen. Erst dann fragte sie unsicher: »Kias?«
Die Ameise versuchte ein menschliches Kopfschütteln zustande zu bringen. »Mein Name ist Tipa, Captain Laird«, sagte sie. »Die Ihnen unter dem Namen Kias bekannte Jared-Einheit befindet sich zur Zeit nicht in der Kommandozentrale.«
»Ich möchte mit Kias sprechen«, verlangte Charity.
Tipa versuchte, mit den Schultern zu zucken. »Das ist nicht notwendig«, sagte er. »Ich kann alle Ihre Wünschen ebenso erfüllen wie Kias, und ...«
»Befindet sich die mir unter dem Namen Kias bekannte Jared-Einheit in diesem Bunker?« unterbrach ihn Charity. Sie bezweifelte, daß Tipa den Sarkasmus, der in ihren Worten zum Ausdruck kam, überhaupt begriff, aber zumindest beantwortete er ihre Frage nach einer Sekunde mit einem Kopfnicken.
»Ja.«
»Dann beweg deinen knochigen Hintern und schaff ihn an den Monitor!« verlangte Charity. »Ich rede nicht mit einer Ameise, die Tipa heißt und jedesmal auseinanderzufallen scheint, wenn sie eine Bewegung macht.«
»Aber ich versichere Ihnen, daß ...«
Charity schaltete das Gerät ab, kramte einen Moment lang in ihrer Erinnerung und gab dann eine vierstellige Zahl in die Tastatur ein. Diesmal dauerte es wesentlich länger, bis der Bildschirm hell wurde, aber sie hatte die richtige Nummer erwischt: Auf der Mattscheibe erschien ein Gesicht, das Skudder zu gehören schien.
»Hallo!« begrüßte ihn Charity fröhlich. »Wie ich sehe, hast du dir die gleichen schlechten Angewohnheiten zugelegt wie ich.«
Skudder öffnete müde ein Auge und blickte sie fragend an.
»Du siehst in den Spiegel und wäschst dem Fremden das Gesicht, den du darin erblickst.«
»Wie?« machte Skudder. Er gähnte ungeniert. »O Gott... sag maclass="underline" Fühlst du dich eigentlich so, wie du aussiehst?«
»Ich glaube schon«, antwortete Charity. »Wieso?«
»Mein Beileid. Wie lange bist du schon tot?«
»Du bist also doch schon wach.« Charity wurde übergangslos ernst. »Sie haben auch dich betäubt.«
»Ja. Und das ist noch nicht alles.« Skudder gähnte wieder, rieb sich über die Augen und blinzelte ein paarmal heftig. Offensichtlich hatte er erheblich größere Mühe als sie, wach zu werden. »Meine Tür geht nicht auf.«
»Meine auch nicht«, sagte Charity. »Es sieht so aus, als wären wir gefangen.« Seltsam - erst jetzt, da sie die Worte aussprach, wurde ihr ihre wahre Bedeutung klar.
»Gefangen?« Skudder gähnte erneut, fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und trat einen Schritt von der Kamera zurück, so daß sie seinen Oberkörper sehen konnte. Mit einem Gefühl leiser Überraschung registrierte sie, daß auch er neue Kleider bekommen hatte. Er trug wieder die gleiche schwarze Lederkluft, in der sie ihm das erste Mal begegnet war: Motorradjacke und -hose, Stiefel und einen schweren, nietenbesetzten Gürtel. Und obwohl sie seinen Rücken nicht sehen konnte, wußte sie, daß sie auf der Jacke einen silbernen Hai mit aufgerissenem Maul entdecken würde; das Emblem der Sharks, deren Anführer er damals gewesen war. Jemand hatte sich verdammt viel Mühe gegeben, ihnen beiden eine kleine Freude zu bereiten. Und der gleiche Jemand mußte eine Menge über sie wissen. Eigentlich kam dafür nur einer in Frage.
»Stone.«
»Wie?« murmelte Skudder verschlafen.
Charity winkte ab. »Nichts. Ich habe nur laut gedacht.« Sie wechselte abrupt das Thema. »Was glaubst du, warum sie uns eingesperrt haben?«
Bevor Skudder antworten konnte, erschien in der oberen rechten Ecke des Bildschirmes ein winziges Fenster, in dem Tipas Kopf auftauchte. »Sie täuschen sich, Captain Laird«, sagte der Jared. »Sie sind keineswegs gefangen. Es hat in dieser Anlage nur gewisse Veränderungen gegeben, so daß es uns besser erschien, Sie und Ihren Begleiter zu ihrer eigenen Sicherheit zu isolieren.«
Charity starrte die Ameise an, und plötzlich wurde sie doch zornig. »Zu unserer eigenen Sicherheit, so?« schnappte sie. »Wie schön. Dann nehme ich auch an, daß du uns zu unserer eigenen Sicherheit belauschst, wie?«
Der Moroni brachte es tatsächlich fertig, verwirrt auszusehen. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen, Captain Laird«, sagte er.
»Wir schätzen es nicht besonders«, antwortete Charity gereizt, »wenn man unseren Gesprächen zuhört, ohne daß wir es wissen. Für euch mag das ja ein Fremdwort sein, aber wir Menschen haben so etwas wie eine Intimsphäre, und wir mögen es gar nicht, wenn jemand ohne unsere Erlaubnis darin herumschnüffelt.«
»Ich glaube, jetzt verstehe ich«, sagte der Jared. »Sie meinen, wir sollten damit aufhören, Ihre Interkom-Leitung zu überwachen.«
»Das wäre eine ausgezeichnete Idee«, sagte Charity.
»Ich werde es veranlassen«, versprach Tipa. »Wünschen Sie auch, daß die Video-Überwachung Ihres Quartiers eingestellt wird?«
Charity riß die Augen auf. »Wie?!«
»Ich verstehe«, sagte Tipa hastig. »Ich werde das Wort Intimsphäre in unsere Verhaltensmuster aufnehmen lassen, Captain Laird.«
Das Gesicht der Ameise verschwand vom Bildschirm.
Eine Sekunde später hörte Charity ein leises Klicken, und die Tür glitt einen Spaltbreit auf. Und dann verschwand auch Skudders Gesicht vom Bildschirm.
Ihre Quartiere lagen unmittelbar nebeneinander, so daß er nur wenige Augenblicke brauchte, um zu ihr zu kommen. Er wirkte noch blasser und kranker als auf dem Monitor. Seine Hände zitterten ununterbrochen, und sein Atem roch schlecht. Was um alles in der Welt hatte man ihnen gegeben, damit sie schliefen?
Sie umarmten sich flüchtig, aber auf eine sonderbare vertraute, warme Art. Irritiert fuhr Charity sich mit dem Handrücken über die Stirn und maß Skudder mit einem langen, sehr verwirrten Blick, und Skudder seinerseits sah sie beinahe erschrocken an. Es war nicht der Umstand, daß sie sich berührt hatten - ihr Verhältnis ging weit über eine gewöhnliche Freundschaft hinaus -, aber Charity hatte bisher geglaubt, daß sie für Skudder gegenüber allenfalls geschwisterliche Liebe empfand.
Aber das stimmte nicht. Ganz plötzlich wußte sie, daß da viel mehr war. Wieso hatte sie das eigentlich niemals erkannt? Und wieso begriff sie es eigentlich jetzt?
Auch auf Skudders Gesicht zeigte sich ein Ausdruck tiefer Verwirrung. Sie fragte sich, ob es nur die Reaktion auf ihr sonderbares Verhalten war.
»Hal ... lo«, sagte Skudder unbeholfen. Er versuchte zu lachen und bewegte die Hände, als wüßte er plötzlich nicht mehr, wohin damit. »Ich weiß nicht, ob es die richtige Uhrzeit dafür ist, aber auf jeden Falclass="underline" guten Morgen.«