»Das ist vielleicht keine schlechte Idee«, sagte Charity. Sie warf Skudder einen fast beschwörenden Blick zu, den er aus trotzig funkelnden Augen erwiderte, und wandte sich wieder an Kias.
»Was ist hier eigentlich los? Wieso sind wir eingeschlossen worden? Und wo ist Gurk?«
»In der Kommandozentrale«, sagte Stone. Offensichtlich, dachte Charity verärgert, hatten die beiden eine geheime Absprache, daß prinzipiell nie der auf eine Frage antwortete, an den sie gerichtet war. »Und Sie sind nicht eingesperrt, Captain Laird. Es hat ... gewisse Veränderungen gegeben. Ich hielt es lediglich für besser, zuerst mit Ihnen zu reden. Selbstverständlich können Sie sich frei bewegen und tun, was Sie wollen.«
Skudders Hand glitt zu der kleinen Axt in seinem Gürtel. »Meinst du das ernst?«
»Was ist passiert?« fragte Charity noch einmal. Sie sah ein, daß es wahrscheinlich das beste war, Skudder einfach zu ignorieren.
»Nichts. Alles läuft nach Plan«, antwortete Stone in einem Tonfall, der bewies, daß ganz und gar nicht alles nach Plan verlief. Das schien ihm sogar selbst aufzufallen, denn er lächelte plötzlich verlegen. »Nur haben wir diesen Plan anscheinend falsch eingeschätzt.«
»Haben wir das?«
Stone zuckte mit den Schultern. »Ich denke, wir sind alle davon ausgegangen, daß die Sache vorbei ist, wenn wir die Bombe entschärfen. Aber offenbar ist das nicht der Fall. Die Schwarze Festung ist gefallen, aber ...«
»... die Moroni sind so unfreundlich, sich weiter zur Wehr zu setzen«, vermutete Charity. »Nicht wahr?«
»Alles geschieht, wie wir es vorausgesehen haben«, sagte Kias. »Die Sklaven der Shait leisten erbitterten Widerstand. Aber wir werden sie besiegen.«
Shait?
Etwas am Klang dieses Wortes ließ Charity schaudern. Sie hatte es nie zuvor gehört, und doch schien es etwas tief in ihrer Seele zu berühren und sie mit einem Gefühl eisiger Furcht zu erfüllen.
Und dann wußte sie es.
Shait.
Shai-Taan.
Das Gefühl des Fremden und doch auf furchtbare Weise Bekannten, das sie immer überkommen hatte, wenn sie sich in der Nähe eines Moroni aufhielt. Die instinktive Furcht beinahe aller Menschen den Außerirdischen gegenüber ... das alles ergab plötzlich einen Sinn, weil ...
Der Gedanke war fort und mit ihm das Wissen, was er bedeutet hatte. Zurück blieb nur der Schrecken, eine an Entsetzen grenzende Lähmung, die es ihr sekundenlang unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Was hast du?« fragte Skudder alarmiert. Offensichtlich zeigte sich ihr Erschrecken deutlich auf ihrem Gesicht.
»Nichts«, sagte Charity rasch. Mit einer nervösen Geste wandte sie sich wieder an Kias. »Shait?«
»Ihr nennt diese Wesen die Herren der Schwarzen Festung«, antwortete Kias. »Sie sind ebenso unsere Feinde wie die Ihres Volkes. Wir hatten gehofft, beide auf diesem Planeten anwesenden Shait bei unserem Angriff auf die Transmitterstation am Nordpol Ihrer Welt zu eliminieren, aber leider konnte einer entkommen.«
»Und?« fragte Skudder. »Wo ist das Problem? Sucht ihn.«
»Sie verstehen das Wesen der Shait nicht«, antwortete Kias. »Sie üben geistige Kontrolle über alle Moron-Geschöpfe auf diesem Planeten aus. So lange dieser eine Shait existiert, wird der Widerstand der Arbeiter und Soldaten nicht aufhören. Aber wir sind durchaus in der Lage, ihn mit anderen Mitteln zu brechen.«
»Dann sollte man diesen einen Shait erledigen«, schlug Skudder erneut vor.
Stone maß ihn mit einem abfälligen Blick. »Genial«, sagte er spöttisch. »Das ist die Idee. Wieso sind wir nur nicht von selbst darauf gekommen? Aber jetzt, wo Sie uns gesagt haben, was wir tun müssen, werden wir diesen Krieg sicher in ein paar Stunden beenden.«
Skudder setzte zu einer wütenden Entgegnung an, aber Charity unterbrach ihn mit einer warnenden Geste und trat mit einem Schritt zwischen ihn und Stone. »So völlig unrecht hat er nicht«, sagte sie.
»Natürlich nicht!« erklärte Stone verärgert. »Der halbe Planet sucht nach diesem Monster!«
»Und die andere Hälfte versucht, ihn daran zu hindern, nehme ich an.«
»So ungefähr«, gestand Stone.
»Das heißt, es herrscht Krieg«, sagte Charity ruhig. »Und wahrscheinlich auf der ganzen Erde. Was zum Teufel hat sich eigentlich geändert?«
Obwohl sie Stone angesprochen hatte, antwortete Kias. »Ich höre einen gewissen Unterton von Verbitterung in Ihrer Stimme, Captain Laird«, sagte er. »Ich verstehe das. Es ist Ihr Heimatplanet, über den wir reden. Aber die Lage ist nicht so ernst, wie es vielleicht auf den ersten Blick den Anschein hat. Der Sternentransmitter am Nordpol ist deaktiviert, so daß die Shait von jeglichem Nachschub abgeschnitten sind. Es ist uns gelungen, etwa zwanzig Prozent ihrer Streitkräfte zu übernehmen, und der verbliebene Rest wird sich nicht sehr lange halten. Ein einzelner Shait besitzt nicht die nötige geistige Kapazität, einen ganzen Planeten auf Dauer unter seiner Kontrolle zu halten. Wir werden diesen Kampf zweifellos gewinnen.«
»Sicher«, antwortete Charity düster. »Es fragt sich nur, was dann noch von der Erde übrig ist, nicht wahr?«
Kias wollte antworten, aber Stone unterbrach ihn mit einer Handbewegung - und einem raschen, verschwörerischen Blick. »Dieselbe Befürchtung teile ich auch«, sagte er. »Und das ist auch der Grund, aus dem ich mich bereit erklärt habe, das Angebot der Jared anzunehmen und ihnen zu helfen, die Shait zu besiegen. Und der Grund, aus dem wir alle Ihre Hilfe brauchen, Captain Laird.« Er sah Skudder an, zögerte eine Sekunde, dann fuhr er mit hörbarer Überwindung fort: »Und Ihre auch, Mister Skudder.«
Charity funkelte ihn an. »Wissen Sie, was mir an Ihnen so wenig gefällt, Stone?« fragte sie. »Sie sind schon wieder dabei, das Kommando zu übernehmen. Ich frage mich allmählich, ob Skudder nicht vielleicht recht hat.«
»Ich übernehme überhaupt nichts«, antwortete Stone. »Kias hat mich gebeten, mit Ihnen zu reden, das ist alles. Sie müssen uns nicht helfen.« Er machte eine zornige Handbewegung zur Tür. »Sie sind frei. Sie und Skudder können tun und lassen, was immer sie wollen. Sie können hierbleiben und uns helfen, die Erde endgültig zu befreien, oder aber gehen. Überlassen Sie es Kias und seinen Leuten, den Shait zu vernichten. Ich zweifle nicht daran, daß es ihnen auch allein gelingen wird. Aber beschweren sie sich danach über nichts!«
Charity kochte innerlich vor Wut. Aber sie beherrschte sich. Das Schlimmste war, daß Stone recht hatte. Sie konnte sich nicht über Dinge beklagen, die zu ändern vielleicht in ihrer Macht stand.
»Also?« fragte sie gepreßt. »Was sollen wir tun?«
Stone beherrschte sich meisterhaft, aber Charity spürte seine Erleichterung. »Im Moment gar nichts«, antwortete er. »Ich erkläre Ihnen alles später, wenn Sie sich einen ersten Überblick über die aktuelle Situation verschafft haben. Ihre unmittelbare Hilfe brauchen wir später - sobald Kias' Leute das Versteck des Shait ausfindig gemacht haben.«
»Wieso?« fragte Charity mißtrauisch.
»Die Jared könnten sich diesem Geschöpf nicht einmal auf eine Meile nähern, ohne entdeckt zu werden«, sagte Stone.
»Aber irgend jemand muß es schließlich erledigen, oder?«
6
Das Bild hätte tatsächlich aus Dantes Inferno stammen können, nur daß es farbig und dreidimensional und wirklich war - und viel entsetzlicher, als jede menschliche Phantasie sich hätte ausmalen können.
Hartmanns Herz jagte. Seine Hände und seine Stirn waren feucht vor Schweiß, und es gelang ihm trotz aller Anstrengung nicht, die irrationale Furcht zu vertreiben, mit der ihn der Anblick des höllischen Pfuhls erfüllte. Obwohl es ihm seit länger als einer Minute nicht gelungen war, den Blick von dem schrecklichen Bild loszureißen, spürte er, daß es Net, die neben ihm stand, ebenso erging. Ihr Atem ging schnell und schwer, und sie hatte eine Hand vom Lauf ihres Gewehres gelöst und auf seinen Arm gelegt, so daß er das Beben ihrer Finger spüren konnte. Unter ihnen lag ein kreisrunder, von blutrotem Licht erfüllter Schacht, dessen Wände senkrecht in die Tiefe stürzten und der mit brennender Lava und dem Flimmern kochender Luft gefüllt war. Der ätzende Geruch des flüssigen Steines war so durchdringend, daß Hartmann kaum noch atmen konnte, und die Hitze trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Trotzdem hätte ihn dieser Anblick allein allenfalls mit Interesse erfüllt, vielleicht mit Angst vor der rein physischen Gefahr, die von dem lavagefüllten Schacht ausging.