»Seltsam«, sagte Net nach einer Weile.
Hartmann hob müde den Kopf und sah sie an. Ihr Gesicht war bleich, und auch ihr Atem ging schnell und stoßweise. Sie zitterte vor Erschöpfung.
»Was?«
Net deutete mit einer Kopfbewegung auf Kyle herab. »Daß er das Bewußtsein verloren hat.«
Statt einer direkten Antwort warf Hartmann einen bezeichnenden Blick auf Kyles Beine. Der unheimliche Selbstheilungsprozeß hatte bereits eingesetzt, aber die Verletzung war nichtsdestotrotz furchtbar. »Sei froh«, sagte er. »Er muß fast wahnsinnig vor Schmerzen geworden sein.«
»Das meine ich nicht.« Net schüttelte heftig mit dem Kopf und strich sich mit einer unbewußten Geste eine Strähne aus der Stirn. »Ich kenne Kyle. Ich weiß, was er aushalten kann. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er regelrecht in Stücke gerissen wurde - und eine Stunde später war er wieder auf den Beinen.« Sie machte ein besorgtes Gesicht. »Irgend etwas stimmt nicht mit ihm.«
»Vielleicht ... liegt es an der Art der Verletzung«, erwiderte Hartmann nachdenklich. Als Net ihn fragend anblickte, fügte er hinzu: »Sie wurde durch den Transmitter hervorgerufen. Vielleicht liegt es ja daran.«
»Es könnte auch eine Schußwunde sein«, sagte Net. »Er war der letzte, der durch den Transmitter ging. Und es liefen noch genug Moroni herum, die nichts besseres zu tun hatten, als auf uns zu schießen.«
Hartmann schüttelte überzeugt den Kopf. Er zwang sich ein paar Sekunden lang, Kyles schrecklich zugerichtete Unterschenkel anzublicken, bis ihm klar wurde, wie sinnlos das war. Alles, was er damit erreichte, war, daß ihm schlecht wurde. Rasch sah er wieder weg.
»Ich habe so etwas noch nie gesehen. Vielleicht ist das Gerät im gleichen Moment ausgefallen, in dem er hindurchging.« Er machte eine erklärende Handbewegung. »Er ist gesprungen, erinnerst du dich? Möglicherweise wurde er irgendwie ... falsch zusammengesetzt.«
Er konnte sehen, wie Net allein bei der Vorstellung zusammenfuhr. »Vielleicht«, sagte sie nach einer Weile. Sie fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Unterlippe. »Glaubst du, daß er ... die Wahrheit gesagt hat?« fragte sie schließlich.
»Mit seiner Geschichte über die Shait und Moron?« Hartmann zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« Nach einigen Sekunden korrigierte er sich: »Doch. Ich glaube es.«
Er konnte diese Überzeugung nicht begründen, aber Net hatte recht. Irgend etwas stimmte mit dem Megamann nicht. Kyle begann sich zu verändern.
»Was mag das hier sein?« fragte Hartmann mit einer Handbewegung in die Runde. Natürlich wußte aber auch Net nicht, wo sie waren. Was Hartmann auf den ersten Blick für einen mit Magma gefüllten Schlund eines Vulkans gehalten hatte, erwies sich bei genauerem Hinsehen als kreisrunder Schacht, dessen Wände entschieden zu glatt waren, um natürlichen Ursprungs zu sein. Jemand hatte diesen Schacht gemacht. Hartmann fragte sich nur, aus welchem Grund. Er gab Net mit einem Blick zu verstehen, daß sie wieder aufbrechen sollten. Dies war wahrlich nicht der richtige Ort, um herumzusitzen und über die Geheimnisse der Moroni-Technologie nachzusinnen. Es kam ihm ohnehin mit jeder Minute unwahrscheinlicher vor, daß sie noch nicht entdeckt worden waren.
Kyle erwachte stöhnend, als sie ihn vorsichtig hochhoben. Er konnte allerdings immer noch nicht sprechen. In diesem Moment war Hartmann jedoch beinahe froh darüber. Das letzte Mal, als Kyle mit ihm geredet hatte, hatte der Megamann ihm wenig erfreuliche Neuigkeiten berichtet.
Sie umkreisten den Schacht in respektvollem Abstand und näherten sich dem Ausgang, einer wuchtigen Tür aus Stahl, die Tonnen wiegen mußte. Hartmann deutete mit einer Kopfbewegung auf eine buckelige Maschine unmittelbar daneben, und Net verstand. Behutsam luden sie Kyle im Schutz dieser Maschine ab, und Hartmann wollte sich wieder aufrichten, um zur Tür zu gehen.
Net kam ihm zuvor. Ehe er überhaupt richtig begriff, was sie vorhatte, huschte sie los, näherte sich geduckt und mit schußbereiter Waffe der Tür und berührte eine Stelle an der Wand daneben. Sie mußte sehr gut zugesehen haben, was die Ameisen taten, denn die Tür schwang auf, und Net verschwand in der Dunkelheit dahinter.
Hartmann blickte ihr mit einer Mischung aus Zorn und Schrecken nach. Einen Moment überlegte er, ihr nachzulaufen und sie zurückzuholen, dann wurde ihm klar, wie sinnlos das gewesen wäre. Als er den Blick senkte, sah er, daß Kyle die Augen geöffnet hatte und ihn ansah. »Ist sie fort?«
»Net?«
»Kann sie uns hören?« fragte Kyle.
»Kaum.« Hartmann ließ sich neben ihn in die Hocke sinken und musterte Kyle mit einem langen, forschenden Blick. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ich habe auf eine Gelegenheit gewartet, allein mit Ihnen zu reden«, sagte Kyle.
Hartmann war nicht sehr überrascht. »So? Warum?«
»Weil ich möchte, daß Sie mir etwas versprechen«, sagte Kyle. Das Reden fällt ihm immer noch schwer, dachte Hartmann erschrocken. Der Zustand des Megamanns besserte sich keineswegs - er verschlechterte sich zusehends.
»Und was wäre das?«
Kyle sammelte seine letzten Kräfte, um zu antworten. »Falls ich es nicht schaffe, ihn zu vernichten, dann müssen Sie mich töten, Hartmann«, sagte er.
Hartmann erschrak nicht einmal. Es war fast, als hätte er diese Worte erwartet. »Ich denke, das wird er dann schon selbst erledigen.«
»Sie verstehen nicht.« Kyle schüttelte mühsam den Kopf. »Sie müssen mich töten. Ich darf ... auf gar keinen Fall lebend in seine Gewalt geraten. Es ist wichtig, verstehen Sie? Nicht für mich. Für Sie. Für Ihre Freunde. Für Ihren ganzen Planeten, Hartmann. Wenn der Shait Gewalt über mich erlangt, dann wird alles noch hundertmal schlimmer, als es war.«
»Sie meinen, er würde ... wie Sie«, vermutete Hartmann.
»Nicht er. Seine Krieger.« Kyle holte rasselnd Atem und versuchte sich aufzurichten, hatte aber nicht mehr die nötige Kraft und sank mit einem lautlosen Seufzer zurück. »Ich habe es Ihnen bisher nicht gesagt. Aber es gibt einen Grund, aus dem die Jared auf der Erde den Moroni so hoffnungslos überlegen sind.«
»Sie.«
Kyle wirkte ehrlich überrascht. »Woher wissen Sie das?«
»Ich habe Augen im Kopf«, antwortete Hartmann. »Ich habe gesehen, wie Ihre Leute mit den Ameisen umgesprungen sind. Und ich kann zwei und zwei zusammenzählen.« Er lachte humorlos. »Sie scheinen zu vergessen, daß ich die Jared zehn Jahre lang bekämpft habe, Kyle. Die ganze Zeit über war die Jared-Kolonie in Köln nichts als ein kleines Ärgernis für Moron. Nicht wahr? Und dann tauchen Sie auf, und plötzlich fegen sie die Beherrscher dieses Planeten praktisch über Nacht davon.«
Er legte eine kleine, genau bemessene Pause ein, ehe er die Frage stellte, vor der er die meiste Angst hatte: »Sind sie alle wie Sie? Eine ganze Armee von Megakriegern?«
»Nicht ganz«, erwiderte Kyle schwach. »Die Königin hat einen Teil meiner Fähigkeiten assimiliert und gibt sie jetzt an ihre Untergebenen weiter. Ihre Untertanen sind zehnmal so stark wie die Moroni und ungleich zäher und klüger.«
Hartmann lächelte humorlos. »Wäre es nicht so grausam, würde ich darüber lachen«, sagte er. »Sie haben sich ihr eigenes Grab geschaufelt, als sie Sie riefen, um Charity und ihre Freunde auszuschalten.« Mit einem Kopfschütteln kehrte er wieder zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. »Und jetzt haben Sie Angst, daß der Shait dasselbe tun könnte, wenn er sich Ihrer bemächtigt.« Hartmann blickte an Kyle vorbei ins Leere. »Könnte er es?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Kyle. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich über die Shait weiß. Es ist nicht viel. Aber schon die bloße Möglichkeit ... Verstehen Sie, Hartmann? Nie zuvor in der Geschichte Morons ging eine Jared-Königin eine Symbiose mit einem Megakrieger ein. Sie wußten bisher nicht einmal, daß so etwas möglich ist. Wenn die Shait davon erfahren, dann wird ein Sturm über die Galaxis hereinbrechen, gegen den Morons bisherige Feldzüge nur ein friedlicher Spaziergang waren.«