Charity hatte so wenig wie irgendein anderer Mensch das Wesen der Jared jemals wirklich verstanden. Sie hatte immer ein wenig Angst vor ihnen gehabt, aber seit ihrer Rückkehr zur Erde empfand sie eine tiefere Furcht. Es war, als wüßte sie plötzlich, daß ihre Angst einen Grund hatte.
Ohne Stone noch eines Blickes zu würdigen, löste sie sich von ihrem Platz und trat an eine der Liegen heran. An der anderen Seite der schmalen Pritsche stand eine Ameise und machte sich an den Eingabeinstrumenten des Überlebenscomputers zu schaffen. Charity bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick und sah dann auf die schlafende Gestalt vor sich herab. Es war eine junge Frau mit dunklem, militärisch kurz geschnittenem Haar und einem Gesicht, das sicher schön gewesen wäre, hätte es nicht die Farbe von Totenhaut gehabt und wäre da nicht der Ausdruck von Entsetzen und Schmerz gewesen, der sich in ihre Züge eingegraben hatte. Und ganz plötzlich kehrte die Erinnerung zurück. Plötzlich sah Charity ein ähnliches, noch fast kindliches Gesicht, das sich entsetzt gegen eine Glasscheibe preßte, einen Mund, der immer und immer wieder ihren Namen schrie und sie um Hilfe anflehte.
Mit einer fordernden Geste wandte sie sich an den Moroni auf der anderen Seite des Bettes. »Was ist mit dieser Frau?«
Die Ameise blickte sie an und antwortete mit einer Folge hoher, pfeifender Laute, und Stone sagte hinter ihr: »Er besitzt keinen Übersetzungscomputer. Aber soweit ich das verstanden habe, wurde ihr Gehirn geschädigt. Er glaubt nicht, daß er sie wieder aufwecken kann.«
»Aber sie lebt!« sagte Charity mit einem Blick auf die leuchtenden Kontrollinstrumente neben dem Bett.
Stone runzelte die Stirn. »Wenn man das Leben nennen kann«, sagte er düster. »Vielleicht wäre es besser für sie, wenn man das Ding einfach abschalten würde.«
Charity fuhr herum und funkelte ihn an, aber der erwartete Zornesausbruch kam nicht. Nach einigen Sekunden sagte Stone, als hätte er ihre Gedanken gelesen: »Ich habe diese Anlage nicht gebaut, Captain Laird. Ich war es nicht, der all diese jungen Leute überredet hat, diesen Wahnsinn mitzumachen.«
Charity starrte ihn an, dann fuhr sie wortlos auf dem Absatz herum und lief aus dem Raum. Skudder und Harris folgten ihr, während Stone bei dem Moroni zurückblieb und sich mit beiden Händen gestikulierend mit ihm zu unterhalten begann.
Charity blieb erst stehen, als sie fast beim Aufzug angelangt war. Sie fühlte sich verwirrt. Ihre Gedanken überschlugen sich.
»Was ist los mit dir?« fragte Skudder, als er sie erreicht hatte. Er atmete schnell. Die letzten Meter war er gerannt, um sie einzuholen.
»Nichts«, antwortete Charity und wollte sich abwenden, um in den Aufzug zu treten, aber Skudder ergriff sie am Arm und hielt sie fest.
»Lüg mich nicht an!« sagte er. »Irgend etwas stimmt nicht mit dir. Schon seit gestern abend!«
Die Erinnerung an den vergangenen Abend verschlechterte Charitys Laune noch mehr. Sie hatten noch lange mit Stone und Kias geredet, und sie hatten auch versucht, hinterher mit Gurk zu sprechen. Charity hatte keineswegs vergessen, was er über den außer Kontrolle geratenen Transmitter am Nordpol gesagt - und was Skudder und sie schließlich mit eigenen Augen gesehen hatten. Aber der Zwerg war ungewohnt schweigsam gewesen und hatte all ihre Fragen mit der lakonischen Bemerkung abgetan, die Jared hätten das Problem in den Griff bekommen. Danach hatte er sich unter einem Vorwand davongestohlen. Seither hatten sie ihn nicht mehr gesehen. Seltsamerweise war Charity beinahe froh darüber.
Obwohl Skudder und Charity mehr als sechzehn Stunden betäubt gewesen waren, waren sie sehr müde geworden. Ihre Körper verlangten nach den Strapazen der vergangenen Wochen nach mehr als nach einigen Stunden künstlich erzwungenen Schlafes, und so hatten sie sich bald zurückgezogen, um noch ein wenig zu reden. Skudder hatte sich große Mühe gegeben. Er war charmant wie niemals zuvor gewesen, aber obwohl sie sich jetzt über ihre wirklichen Gefühle dem Indianer gegenüber mittlerweile im klaren war, hatte sie sich sehr abweisend verhalten. Mit sanfter Gewalt machte sie sich aus Skudders Griff los, trat in den Aufzug hinein und streckte die Hand nach dem Knopf für die Kommandoebene aus, drückte ihn aber noch nicht. »Ich ... weiß nicht, was mit mir los ist«, sagte sie, ohne Skudder anzusehen. Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Ich fühle mich so ... seltsam. Irgendwie ... unwirklich.«
Skudder blickte fragend.
»Ich kann es selbst nicht erklären«, sagte Charity, »aber ich habe das Gefühl, daß hier irgend etwas nicht stimmt.« Sie machte eine Geste in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Ich kann es nicht beschwören, aber ich bin fast sicher, daß all diese Menschen das letzte Mal noch nicht hier waren.«
»Diese Anlage ist ziemlich groß«, sagte Skudder. »Vielleicht haben sie einfach alle auch nur halbwegs hoffnungsvollen Fälle in dieses Zimmer geschafft.«
Diese Erklärung klang zwar einleuchtend, konnte aber nicht die Wahrheit sein. Charity kam sich vor, als wäre sie in einem jener Träume gefangen, in denen man genau weiß, daß man träumt, aus denen man aber trotzdem nicht erwachen kann.
Harris erreichte als letzter den Aufzug. Die Türen schlossen sich, und der Aufzug begann beinahe lautlos nach oben zu gleiten. Sie sprachen kein Wort, bis die Kabine angekommen war und sie ausstiegen.
Charity wollte sofort zu ihrem Quartier gehen, aber wieder hielt sie Skudder mit einer wenig sanften Bewegung zurück.
Er deutete nach links den Gang hinunter. »Was ist denn noch?« fragte sie gereizt.
»Ich möchte dir etwas zeigen - falls deine kostbare Zeit es zuläßt«, sagte er in einem gereizten Tonfall.
Sie nickte wortlos und folgte ihm. Harris folgte ihnen ebenfalls, obwohl weder Charity noch Skudder ihn aufgefordert hatten, sie zu begleiten. Durch zwei weitere Korridore und über eine kurze Metalltreppe gelangten sie in einen Raum, der früher einmal als Lager gedient haben mußte. Was von dem Lager übriggeblieben war, hatte man zu einem unordentlichen Stapel zusammengeschoben, der bis unter die Decke reichte und aussah, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Vor dem Stapel stand ein knappes Dutzend niedriger Metallpritschen, die denen ähnelten, die sie unten in den Tiefschlafkammern gesehen hatten.
Charity stand wie gelähmt da und starrte aus entsetzt aufgerissenen Augen auf das halbe Dutzend nackter Gestalten, die ausgestreckt auf diesen Pritschen lag. Es waren vier Männer und zwei Frauen. Obwohl sie unbekleidet waren, konnte man ihre Gesichter trotzdem nicht erkennen, denn sie waren unter bedrohlich aussehenden Hauben verborgen, die jemand über ihre Köpfe gestülpt hatte. Ein gutes Dutzend Ameisen huschte geschäftig zwischen den Liegen hin und her.
»Was zum Teufel geht hier vor?« fragte Charity fassungslos. Sie trat mit wenigen raschen Schritten an eine der Liegen herab und blieb abermals stehen.
Der Anblick war seltsam und schrecklich zugleich. Der Mann lag reglos ausgestreckt auf der Pritsche, nur locker festgeschnallt, damit er sich nicht im Schlaf bewegte, oder sich eine der Nadeln herauszog, die in seinen Venen steckten. Auf seinem Gesicht lag ein buckliges Ding mit langen gekrümmten Beinen, die sich um seinen Hals, den Hinterkopf und die Schläfen schmiegten. Das Wesen sah aus wie eine riesige versteinerte Spinne.