»Nein«, antwortete Net voll bitterem Spott. »Sie werden einfach die Köpfe eingezogen und sich in irgendein Loch verkrochen haben, als diese verdammte Bombe hochging, nicht wahr?« Sie machte eine fast herrische Handbewegung, als Kyle widersprechen wollte, und fuhr in schärferem Tonfall fort: »Wir kommen hier sowieso nicht mehr heraus. Wenn sie uns schon erwischen, dann will ich wenigstens noch soviel Schaden anrichten, wie ich kann.«
Hartmann sah sie alarmiert an. In Nets Stimme war plötzlich etwas, das ihn aufhorchen ließ und das ihm nicht gefiel. Er kannte diesen Ton. Er hatte ihn oft genug in den Stimmen von Soldaten gehört, die kurz davor standen, die Beherrschung zu verlieren. »Red nicht so einen Unsinn, Net«, sagte er beinahe sanft. »Bis jetzt haben sie nicht einmal bemerkt, daß es uns gibt.«
»Aber das werden sie«, antwortete Net. »Nicht wahr?« Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Wir können nicht zurück. Was hast du vor? Hier sitzen, bis wir verhungert oder verdurstet sind?«
»Natürlich nicht«, antwortete Hartmann gereizt. »Aber ich frage mich, was du vorhast. Willst du hinausgehen und mit Steinen nach dem Transmitter werfen?«
»Immerhin haben wir noch unsere Waffen.« Net schlug herausfordernd mit der flachen Hand auf den Lauf ihres Gewehres, aber Hartmann lachte nur.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, daß du dieses Ding mit einem Gewehr zerstören kannst?«
»Er hat recht, Net«, fügte Kyle hinzu. »Du könntest es nicht einmal leicht beschädigen.«
»Aber irgend etwas müssen wir tun!« widersprach Net.
»Das werden wir auch«, sagte Hartmann beruhigend. »Aber nicht sofort. Und vor allem nicht, ohne einen Plan zu haben.« Er zögerte einen Moment, dann wandte er sich an den Megamann.
»Diese Transmitter müssen eine schwache Stelle haben«, sagte er.
»Ja«, antwortete Kyle lakonisch. »Ich schätze, daß eine 2-Megatonnen-Bombe ausreichen würde, um den Ring ernsthaft zu beschädigen.«
Hartmann schluckte die ärgerliche Antwort, die ihm auf der Zunge lag, herunter. Er gab Net ein Handzeichen, still zu sein, und wandte sich mit erzwungener Ruhe wieder an den Megamann.
»Es muß eine Möglichkeit geben, dieses Ding unschädlich zu machen«, sagte er. Er deutete auf Net. »Sie hat recht; wenn es ihnen gelingt, ihn irgendwie zu aktivieren, dann war alles umsonst.«
Kyle sah ihn eine Weile schweigend und mit undeutbarem Ausdruck an, aber Hartmann glaubte trotzdem zu wissen, was hinter der Stirn des Megakriegers vor sich ging. Schließlich nickte Kyle.
»Vielleicht gibt es wirklich eine Möglichkeit«, sagte er. »Hören Sie zu ...«
11
Zum ersten Mal seit Tagen hatte sie das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Alles in allem war sie nicht mehr als zweiundsiebzig Stunden in der Bunkerfestung gewesen, und trotzdem kam es ihr vor, als sähe sie nach monatelanger Gefangenschaft zum ersten Male wieder Tageslicht.
So sehr Charity dieses Gefühl auch genoß, es verwirrte sie auch ein wenig. Hartmanns Bunkerstation war einer der wenigen Orte gewesen, an denen sie sich beinahe zu Hause gefühlt hatte, erinnerte er sie doch auf Schritt und Tritt an die Welt, in der sie geboren und aufgewachsen war. Doch während der letzten drei Tage war sie sich sonderbar fremd vorgekommen, ein Eindringling, der nicht an jenen Ort gehörte. Vielleicht lag es an der Nähe der Jared.
Der Stalscopter gewann langsam an Höhe und wandte sich nach Norden, als Charity dem Piloten ein Zeichen gab. Sie konnte das Gesicht des jungen Mannes nicht erkennen, denn es lag unter dem einseitig verspiegelten Visier des Neurohelmes verborgen. Aber sie behielt ihn trotzdem scharf im Auge. Seine Körperhaltung und die Hände, die mit kräftigem Griff auf dem Steuerknüppel lagen, verrieten Anspannung, aber nicht die mindeste Nervosität oder gar Unsicherheit. Der Stalscopter flog langsam und so ruhig, als bewege er sich auf Schienen, und auch der Start hätte nicht perfekter sein können. Es war mehr als unheimlich. Noch vor drei Tagen war dieser junge Mann nicht einmal in der Lage gewesen, ein Automobil zu fahren. Und jetzt beherrschte er eines der kompliziertesten und empfindlichsten Luftfahrzeuge, das Menschen jemals gebaut hatten, so perfekt, als hätte er sein Lebtag lang nichts anderes getan. Offensichtlich funktionierte die Hypnose-Schulung der Jared tatsächlich so perfekt, wie Kias behauptet hatte.
Charity tauschte ihren Platz neben dem Piloten nach einem auffordernden Blick mit Skudder und ging geduckt ins hintere Abteil des Stalscopters zurück, wo Harris und drei der anderen Kadetten saßen und gebannt aus den Fenstern in die Tiefe sahen. Unter ihnen spulte sich ein wechselndes Muster aus Wald und Trümmerlandschaft ab. Manche der kleinen Städte und Dörfer, die die Moroni bei ihrem Angriff vor einem halben Jahrhundert in Schutt und Asche gelegt hatten, waren schon völlig von Gestrüpp und Bäumen überwuchert. Die Natur hatte nicht lange gebraucht, das verlorene Terrain zurückzuerobern.
Der Anblick der wuchernden Landschaft tröstete Charity irgendwie. Ganz plötzlich begriff sie, wie unwichtig sie alle waren. Selbst wenn die Moroni den letzten Menschen auf diesem Planeten getötet hatten, würde das Leben doch weitergehen.
Plötzlich tauchte unter dem Helikopter eine weitere, völlig zerstörte Stadt auf. Die meisten Häuser waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und im aufgebrochenen Asphalt des Straßenbelages glitzerten ölige Pfützen. Kein Grün zeigte sich zwischen den verlassenen Straßenblocks. Die Stadt mußte von einem Nuklearsprengkopf getroffen worden sein, der eine ganz besonders harte Strahlung zurückgelassen hatte. Vielleicht würde es noch einmal fünfzig Jahre dauern, bis Leben zurückkehrte.
Mit einer fast übertrieben heftigen Geste wandte Charity sich vom Fenster ab und ließ sich Harris gegenüber auf eine der schmalen, ungepolsterten Sitzbänke sinken. Sie lächelte, und Harris lächelte zurück, aber er schien ihre Betroffenheit wohl zu spüren, denn sein Blick blieb ernst. Trotzdem stellte er keine Frage, sondern deutete nur mit einer Kopfbewegung zur Kanzel. »Nun?«
»Perfekt«, sagte Charity. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Kias hat nicht übertrieben. Er fliegt dieses Ding, als wäre er mit einem Neurohelm auf dem Kopf geboren worden.«
Harris' Augen verengten sich. »Wieso werde ich den Eindruck nicht los, daß es Ihnen nicht gefällt?«
Charity sah ihn überrascht an. »Merkt man es so deutlich?«
»Ja«, antwortete Harris. »Ich spüre das schon seit einiger Zeit.«
Eine Sekunde lang dachte Charity darüber nach, was sie von dieser Antwort zu halten hatte, dann zuckte sie mit den Achseln. »Vielleicht muß ich mich erst an den Gedanken gewöhnen«, erwiderte sie. Sie sah Harris ganz bewußt nicht an, sondern musterte die Gesichter der drei anderen Kadetten. Die drei - zwei junge Männer und ein Mädchen - waren jünger als sie selbst, Skudder und Harris. Kleine Metallschildchen an der Brust ihrer grüngefleckten Tarnuniformen, mit denen Stone sie aus den schier unerschöpflichen Lagerhallen der Bunkerfestung versorgt hatte, verrieten ihre Namen: Lerou, Delgard und Tribeaux. Die drei kamen aus Paris, ebenso wie ihr Pilot und zwei oder drei Dutzend anderer Freiwilliger, die Stones Helfer in den letzten beiden Tagen herangebracht hatten. Charity hatte mit jedem einzelnen gesprochen, und natürlich hatte sie auch darauf bestanden, zumindest mit einigen zu reden, bevor sie sich der Hypnosebehandlung der Jared unterzogen. Sie hatte jedesmal die gleiche Geschichte gehört. Mit Gurks Hilfe war es Stone gelungen, das Vertrauen der Freien Kolonie in Paris zu erringen. Viele junge Männer und Frauen hatten sich als Freiwillige gemeldet. Was nicht zuletzt an Charity lag. Schon die Erwähnung ihres Namens schien ausgereicht zu haben, aus diesen halben Kindern zu allem entschlossene Kämpfer zu machen, die mit Freuden ihr Leben geopfert hätten, wäre es von ihnen verlangt worden.