Charity verstand das nicht. Natürlich wußte sie, daß Stone in einem Punkt recht hatte: Die Menschen hatten immer und zu allen Zeiten einen Führer gebraucht, eine Figur, zu der sie aufsehen und der sie ihre Bewunderung und ihr Vertrauen entgegenbringen konnten. Aber was Skudder und sie bisher erreicht hatten, das war entschieden zu wenig, um sie selbst gegen ihren Willen in diese Rolle zu drängen. Ihr Aufenthalt in Paris war nur kurz und nicht sonderlich erfolgreich gewesen.
»Wohin fliegen wir?« drang Harris' Stimme in ihre Gedanken.
Charity zuckte mit den Schultern. »Ich wollte einfach sehen, wie sie sich verhalten.« Sie stand auf. »Gut, daß Sie mich daran erinnern. Ich habe Stone versprochen, der Stadt nicht zu nahe zu kommen.«
»Wieso?«
Erneut zuckte Charity die Achseln und begann auf das Cockpit zuzugehen. »Fragen Sie die Jared«, sagte sie.
Sie duckte sich durch die niedrige Tür zum Cockpit hindurch, tauschte einen fragenden Blick mit Skudder und sah dann durch die Kanzel nach vorn. Weit im Norden wurde das matte Grün der Eifelwälder zum schwarzgrauen Schattenmuster einer zerstörten Stadt. Sie würden sicherlich noch eine Viertelstunde brauchen, um den Fluß und somit die Demarkationslinie zu erreichen, die sie nicht überschreiten durften. Aber sie hatte Stone tatsächlich ihr Wort gegeben, sich der Stadt nicht zu nähern. Es war ihr nicht schwergefallen, dieses Versprechen abzulegen. Mit dieser Stadt, dem Dom und der Jaredkönigin waren zu viele schmerzliche Erinnerungen für sie verbunden.
Sie stützte sich lässig mit den Unterarmen auf die Rückenlehne von Skudders Sitz - und runzelte überrascht die Stirn. »Was ist das?«
Skudder sah auf, um ihr ins Gesicht zu blicken. »Was?«
Charity deutete nach vorn. »Dort zwischen den Bäumen. Siehst du?«
Skudder beugte sich im Sitz vor und sah einen Moment lang in die Richtung, in die Charity deutete. »Das sieht aus wie ... Schnee«, sagte er überrascht.
»Im August?« fragte Charity zweifelnd. Sie gab dem Piloten einen Wink. »Ändern Sie den Kurs. Das will ich mir ansehen.«
Der junge Mann antwortete nicht, aber der Stalscopter schwenkte gehorsam herum und ging tiefer, während er sich der kleinen Waldlichtung näherte, auf die Charity gedeutet hatte. Nach einigen Augenblicken hatte er sie erreicht und blieb in der Luft stehen.
Es ist tatsächlich Schnee, dachte Charity verwirrt.
Das weiße Glitzern, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, war das Schimmern von Rauhreif im Gras. Nur hier und da stoben weiße Schneewehen von den Ästen der Bäume oder vom Boden hoch, als der Sturmwind der Rotoren den Schnee aufwirbelte.
»Aber wie ist denn das möglich?« wunderte sich Skudder.
Charity schwieg. Der Anblick der pulvrigen Schneewehen verstärkte das ungute Gefühl in ihr. Niemand wußte wirklich, was die Moroni in den letzten fünfzig Jahren mit dem Klima dieses Planeten angestellt hatten oder welche Auswirkungen die zahllosen Atomsprengköpfe gehabt haben mochten, die bei der Ankunft der Außerirdischen in der Erdatmosphäre gezündet worden waren. Wahrscheinlich gab es auch noch eine ganze Reihe anderer, ebenso einleuchtender Erklärungen. Und doch ... Dieses Phänomen irritierte sie nicht nur, es erschreckte sie.
»Notieren Sie die Position im Computer«, befahl sie dem Piloten. »Vielleicht schauen wir es uns später noch einmal an.« Sie gab ihm ein Zeichen, weiterzufliegen, behielt die kleine, in mattem Weiß schimmernde Lichtung jedoch im Auge, bis sie ihren Blicken entschwunden war.
Sie flogen weitere drei oder vier Minuten dicht über den Baumwipfeln dahin in nördlicher Richtung, ohne auf ein weiteres Anzeichen dafür zu stoßen, daß mit diesem Wald irgend etwas nicht stimmte, dann wandte sich Charity um und machte einen Schritt zur Tür zurück. »Tribeaux?« fragte sie. »Haben Sie Lust zu übernehmen?«
Die junge Französin stand mit einem wortlosen Nicken auf, und Charity trat wieder neben den Piloten. »Suchen Sie einen Landeplatz«, sagte sie.
Der Helikopter verlor weiter an Geschwindigkeit und ging tiefer. Der Wald war an dieser Stelle sehr dicht, und Charity hatte nicht genug Vertrauen in die Fähigkeiten des Jungen, um eine Landung zwischen den Bäumen zu riskieren. So bedeutete sie ihm mit einer Geste, ein Stück weiter zu fliegen, bis Bäume und Unterholz unter ihnen wieder dem graugrünen Fleckenmuster zerstörter Straßenzüge Platz machten. Automatisch warf sie einen Blick auf die Instrumente des Helikopters, ehe sie dem Piloten gestattete, endgültig zu landen. Der Geigerzähler zeigte keine gefährliche Strahlung an.
Der Helikopter setzte so sanft auf, daß Charity nicht einmal eine Erschütterung spürte, und der Pilot erhob sich aus seinem Sitz und streifte den Helm ab. Er wollte ihn an Tribeaux weiterreichen, aber Charity schüttelte den Kopf.
»Schalten Sie die Motoren aus«, sagte sie. »Ich denke, wir sollten uns ein wenig umsehen.«
Skudder sah sie überrascht an, schwieg aber. Er war dabei gewesen, als Charity Stone versprochen hatte, nirgends zu landen, sondern nur ein paar Runden mit der Maschine zu drehen und dann unverzüglich zurückzukehren. Und sie hatte eigentlich auch gar keinen Grund, dieses Versprechen zu brechen.
Sie verließen die Maschine. Charity ließ Lerou als Wächter zurück und sprang als erste aus dem Helikopter. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß ihre Funkgeräte alle auf die gleiche Frequenz eingestellt waren, entfernte sie sich ein paar Schritte von dem gelandeten Hubschrauber und blieb stehen. Das Heulen der Turbine verklang allmählich, aber auch danach kehrte keine wirkliche Stille ein. Sie hörte das Rauschen des Windes im nahen Wald und ein fernes, anhaltendes Rollen und Donnern wie das Geräusch eines weit entfernten Gewitters oder einer schweren Meeresbrandung. Doch in Wahrheit war es das Echo der Schlacht, die fünfzig Meilen von ihnen entfernt tobte.
Trotzdem überkam Charity für einen Moment das Gefühl eines viel zu lang vermißten Friedens, als sie dastand und die kalte, nach Blättern und Gras duftende Luft einatmete. Zum allerersten Mal, seit sie auf die Erde zurückgekehrt war, waren ihre Kopfschmerzen verflogen, und zum allerersten Mal hatte sie das Gefühl, nicht eingesperrt zu sein.
Nach einer Weile wurde ihr klar, daß die anderen hinter ihr stehengeblieben waren und sie erwartungsvoll anblickten. Sie sah sich kurz um und deutete dann beinahe wahllos auf einen zu vier Fünfteln von Unkraut überwucherten Trümmerblock, vielleicht fünfzig Meter entfernt. Die Reste einer zerborstenen, gelben Lichtreklame reflektierten das Licht der tiefstehenden Sonne, und hier und da war sogar noch eine Fensterscheibe erhalten geblieben.
»Dieses Gebäude dort«, sagte sie. »Nehmen wir an, es wäre von Moroni besetzt, die genau wissen, daß wir kommen. Versucht, es zu stürmen.«
Skudder blickte sie mit noch größerer Überraschung an, und auch Harris runzelte mißbilligend die Stirn, aber die drei Kadetten nahmen unverzüglich ihre Gewehre von der Schulter und begannen auf die Ruine zuzulaufen. Charity beobachtete sie aufmerksam. Sie stellten sich nicht einmal ungeschickt an. Trotzdem dauerte es nur Augenblicke, bis Charity den Kopf schüttelte und mit einem enttäuschten Seufzer die Luft ausstieß. Es war so, wie sie befürchtet hatte: Die drei mochten wissen, wie man einen Helikopter flog oder einen Panzer bediente, aber sie hatten keinerlei Kampferfahrung.
»Was soll das?« fragte Skudder.
Charity antwortete nicht, sondern bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und rief: »Delgard! Sie können zurückkommen!«
Der junge Franzose blieb mitten im Schritt stehen, warf einen verwirrten Blick zu ihr zurück, gehorchte dann aber, während sich die beiden anderen durchaus geschickt weiter der Ruine näherten.
»Captain?« Delgard salutierte übertrieben zackig, als er vor ihr stehenblieb.
»Sparen Sie sich das«, sagte Charity lächelnd. »Sie sind nämlich tot. Sie waren mindestens zwanzig Sekunden ohne Deckung.«