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Im Jahr 1908, am 30. Juni um 7:17, traf in Nordsibirien etwas auf, das genug Kraft hatte, die ganze Welt zu erschüttern. Es war eine enorme Explosion im entfernten und unbewohnten Tunguska-Territorium, die man später auf eine Stärke von zehn bis zwanzig Megatonnen TNT bezifferte - stärker als jede Atombombe, die je explodiert war. Die Druckwelle der Explosion fällte um die 70 Millionen Bäume, entwurzelte sie und legte sie auf einer Fläche von 2000 Quadratkilometern völlig flach. Das Licht, das von diesem Einschlag verursacht wurde, war so hell, dass man in London um Mitternacht noch eine Zeitung auf der Straße lesen konnte, und hielt drei Tage an.

Aber der Vorfall wurde erst rund zwanzig Jahre später richtig untersucht. Der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution lagen dazwischen, und die sowjetischen Behörden lehnten hartnäckig jedes ausländische Angebot wissenschaftlicher Hilfe ab. 1928 machte sich ein russisches Team von Wissenschaftlern auf die lange und schwierige Reise ins gefrorene Herz Nordsibiriens, um nachzuforschen. Das war der Zeitpunkt, an dem das Rätsel begann. Denn das, was die Wissenschaftler dort fanden, ergab überhaupt keinen Sinn.

Jedermanns erster Gedanke war gewesen, dass ein richtig großer Meteor es geschafft hatte, durch die Atmosphäre zu kommen und uns eigentlich wie ein »globaler Killer« hätte auslöschen sollen, aber es gab keinen Krater. Nichts. Nicht einmal eine Delle im Boden. Also konnte es kein Meteor gewesen sein. Der nächste Gedanke war ein Komet. Weil Kometen zum größten Teil aus Eis und Gas bestehen, wäre es nur einem wirklich großen Kometen möglich gewesen, durch die Atmosphäre zu kommen und knapp über dem Boden zu explodieren. Solche Dinge waren schon vorgekommen, aber viel kleiner. Doch in jedem dieser Fälle hatte der explodierende Komet ganz bestimmte Chemikalien und Elemente im Boden hinterlassen und diese gab es in Tunguska nicht. Also war es auch kein Komet.

Dann hatte jemand die Idee, es sei eine große vulkanische Explosion unter der Erde gewesen, die durch überstarken Druck entstanden war. Nur hätte auch das einen Krater hinterlassen müssen. Im Laufe der Jahre gab es eine Menge Theorien: ein abgestürztes außerirdisches Raumschiff, ein Schwarzes Loch in Miniaturgröße auf seiner Reise durchs Weltall, sogar ein Ausbruch der Hölle. Aber von denen hätte meine Familie gewusst. Ein Jahrhundert nach dem Tunguska-Ereignis diskutieren die Wissenschaftler immer noch ohne Ergebnis.

»Das ist ja alles ganz cool und schön«, sagte Peter. »Aber das ist doch irgendwo passiert und wir sind hier. Was sollen wir hier? Warum hat dieser Ort keinen anständigen Namen? Und - das Wichtigste! - warum: Oh, scheiße

»Alle diese alten wissenschaftlichen Städte haben einen schlechten Ruf«, meinte ich. »Aber X25 spielte in einer Sonderliga. Und - Zufall oder nicht - wir sind nicht weit entfernt von einem der großen Drood- Geheimnisse. Einige Meilen von hier schläft etwas Altes und unaussprechlich Mächtiges unter dem Permafrostboden. Wir müssen echt vorsichtig sein, während wir hier sind, damit wir nichts tun, was es weckt.«

»Einfach mal so, um einen Grund zu haben«, meinte Walker. »Was würde denn passieren, wenn wir das täten?«

»Das Ende aller Dinge«, sagte ich. »Die Zerstörung der Welt und der Menschheit, wie wir sie kennen. Die Hölle auf Erden, für immer und ewig.«

»Oh«, sagte Walker. »Dann sollten wir das besser nicht tun.«

»Besser wäre das«, erwiderte ich.

»Manchmal kannst du eine richtige Dramaqueen sein«, sagte Honey. Sie sah mich misstrauisch an. »Wieso wisst ihr Droods überhaupt so viel über diese gottverlassene Gegend?«

Ich lächelte so gut ich das mit meinen halb erfrorenen Lippen konnte. »Das würdest du wohl gerne wissen.«

Wir trotteten durch die verlassene Stadt. Immer noch gab es kein Lebenszeichen. Die einzigen Laute waren unsere unregelmäßigen Schritte, die von den kahlen, abweisenden Mauern widerhallten. Wir waren alle zu Tode erschöpft, innerlich und äußerlich, jede Bewegung wurde zur Anstrengung. Ich hatte das Gefühl, ich müsse schreien, um die Stille zu unterbrechen und zu sehen, ob jemand antwortete, aber ich tat es nicht. Wenn jemand an diesem verlassenen Ort noch lebte, dann war ich recht sicher, dass er nicht zu der Sorte Leute gehörte, die ich gerne träfe. Und selbst darüber hinaus - die Stadt war zu still, zu ruhig. Wie eine kauernde Katze, zum Sprung auf die Beute bereit. Es fühlte sich an, als würden wir beobachtet. Von überallher.

Die Straßenlampen leuchteten nicht und hinter keinem der Fenster war ein Licht auszumachen. Kein Anzeichen von irgendeiner Energie in irgendeinem Teil der Stadt. Hier und da kamen wir an einem altmodischen Kastenwagen mit zerschlagener Windschutzscheibe vorbei, dessen Türen offen standen. Große Rostlöcher klafften in den Metallteilen, als ob sie vergammelten. Die Häuser waren in typischer Sowjetmanier gebaut: massive Betonklötze und krude Steingebäude, mit all dem Charme und dem Charakter einer Ohrfeige ins Gesicht. Kein Anzeichen dafür, dass sie bewohnt waren.

Endlich fanden wir einen Laden mit Kleidern. Hinter dem verschmierten Glas waren schwere Mäntel und Hüte ausgestellt. Wir versammelten uns vor dem Fenster wie hungrige Kinder vor einem All-you-can-eat-Buffet. Walker rüttelte an der Tür, doch sie war verschlossen.

»Lasst mich erst mal etwas Gefühl in meine Finger zurückbringen, dann mache ich euch das Schloss in einer Minute auf«, sagte Honey.

Ich rüstete hoch und trat die Tür ein. Mein goldener Fuß riss die Tür aus den Angeln und ließ sie mehrere Meter in den Laden hineinfliegen. Ich rüstete wieder ab. Die anderen sahen mich an. Sie hatten sich noch nicht daran gewöhnt, mich in der Rüstung zu sehen, und an all die Dinge, die ich dann tun konnte. Gut. Das hielt sie respektvoll und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Vielleicht dachten sie dann zweimal darüber nach, bevor sie sich gegenseitig umbrachten. Honey sah beinahe neidisch aus, dass ich so etwas Nützliches besaß und sie nicht. Immerhin hatte es ihr gelbes Tauchboot um Längen geschlagen. Walker sah nachdenklich aus. Peter hielt Abstand und versuchte so zu tun, als starre er nicht auf den Torques an meinem Hals.

Im Laden griffen wir uns die dicksten Mäntel, die wir finden konnten, und nahmen sie den Schaufensterpuppen ab. Wir wickelten uns dick darin ein und stöhnten beinahe vor Vergnügen. Dann verbrachten wir einige Zeit damit, auf und ab zu laufen, die pelzigen Arme um uns geschlungen, während die Wärme langsam in unsere frierenden Körper zurückkehrte. Wir fluchten und schnitten Grimassen, als das Gefühl beißend in unsere tauben Extremitäten zurückkehrte. Als wir unsere Hände wieder fühlen konnten, schnappten wir uns alte Mützen, schwere Lederhandschuhe und lange Wollschals. Wir waren zwar nicht mehr draußen im bitterkalten Wind, aber dennoch dampfte unser Atem auch hier in der feuchtkalten Ladenluft. Walker schlug vor, die Möbel zu zerschlagen, um ein Feuer zu machen, aber ich musste ablehnen. Ich wollte nichts tun, was auf uns aufmerksam machte. Noch nicht. Peter hatte sich selbst unter dem dicksten Mantel begraben, den er hatte finden können, zusammen mit einer viel zu großen Pelzmütze und einem halben Dutzend Halstüchern. Die Farbe war langsam in sein Gesicht zurückgekehrt und das Eis auf seinen Wimpern war geschmolzen. Er bemerkte, wie ich ihn ansah, und sah mürrisch zurück.

»Mir ist immer noch kalt«, sagte er gedämpft durch seinen hochgezogenen Schal. »Und ich habe echt Hunger.«

»Außerdem siehst du total unmodisch aus«, meinte Honey. Unglaublicherweise hatte sie einen weißen langen Pelzmantel gefunden, der genauso aussah wie der, den sie in Arkansas zurückgelassen hatte. Und einen passenden weißen Pillbox-Hut, weiße Handschuhe und weiße Lederstiefel. Irgendwo lag ein nackter Eisbär zitternd in seiner Höhle und verfluchte die Menschheit.

Walker sah smart, aber leger aus, was in altrussische Schneiderkunst gehüllt nicht ganz einfach war, ging diese doch eher Richtung Kraft statt auf Qualität. Er sah auf die altmodische Registrierkasse mit messingfarbenen Tasten, die auf dem Tresen stand, und runzelte die Stirn.