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Wie jede Kraft auch zu einer Schwäche werden kann (ja unter Umständen werden muß), so kann umgekehrt der typische Selbstmörder aus seiner anscheinenden Schwäche oft eine Kraft und eine Stütze machen, ja er tut dies außerordentlich häufig. Zu diesen Fällen gehört auch der Harrys, des Steppenwolfes. Wie Tausende von seinesgleichen, machte er aus der Vorstellung, daß ihm zu jeder Stunde der Weg in den Tod offensteht, nicht bloß ein jugendlich-melancholisches Phantasiespiel, sondern baute sich aus ebendiesem Gedanken einen Trost und eine Stütze. Zwar rief in ihm, wie in allen Menschen seiner Art, jede Erschütterung, jeder Schmerz, jede üble Lebenslage sofort den Wunsch wach, sich durch den Tod zu entziehen. Allmählich aber schuf er sich aus dieser Neigung gerade eine dem Leben dienliche Philosophie. Die Vertrautheit mit dem Gedanken, daß jener Notausgang beständig offenstehe, gab ihm Kraft, machte ihn neugierig auf das Auskosten von Schmerzen und üblen Zuständen, und wenn es ihm recht elend ging, konnte er zuweilen mit grimmiger Freude, einer Art Schadenfreude, empfinden: »Ich bin doch neugierig zu sehen, wie viel eigentlich ein Mensch auszuhalten vermag! Ist die Grenze des noch Erträglichen erreicht, dann brauche ich ja bloß die Tür zu öffnen und bin entronnen.« Es gibt sehr viele Selbstmörder, denen aus diesem Gedanken ungewöhnliche Kräfte kommen.

Andrerseits ist allen Selbstmördern auch der Kampf gegen die Versuchung zum Selbstmord vertraut. Jeder weiß, in irgendeinem Winkel seiner Seele, recht wohl, daß Selbstmord zwar ein Ausweg, aber doch nur ein etwas schäbiger und illegitimer Notausgang ist, daß es im Grunde edler und schöner ist, sich vom Leben selbst besiegen und hinstrecken zu lassen als von der eigenen Hand. Dies Wissen, dies schlechte Gewissen, dessen Quelle dieselbe ist wie etwa für das böse Gewissen der sogenannten Selbstbefriediger, veranlaßt die meisten »Selbstmörder« zu einem dauernden Kampf gegen ihre Versuchung. Sie kämpfen, wie der Kleptomane gegen sein Laster kämpft. Auch dem Steppenwolf war dieser Kampf wohl bekannt, mit vielerlei wechselnden Waffen hatte er ihn gestritten. Schließlich kam er, im Alter von etwa siebenundvierzig Jahren, auf einen glücklichen und nicht harmlosen Einfall, der ihm oft Freude machte. Er setzte seinen fünfzigsten Geburtstag als den Tag fest, an welchem er sich den Selbstmord erlauben wolle. An diesem Tag, so vereinbarte er mit sich selber, sollte es ihm freistehen, den Notausgang zu benützen oder nicht, je nach der Laune des Tages. Mochte ihm nun geschehen was da wollte, mochte er krank werden, verarmen, Leid und Bitternis erfahren – alles war befristet, alles konnte allerhöchstem nur diese wenigen Jahre, Monate, Tage andauern, deren Zahl täglich kleiner wurde! Und in der Tat ertrug er manches Ungemach jetzt viel leichter, das ihn früher tiefer und länger gequält, ja vielleicht bis zur Wurzel erschüttert hätte. Wenn es ihm aus irgendwelchem Grunde besonders schlecht ging, wenn zur Verödung, Vereinsamung und Verwilderung seines Lebens noch besondere Schmerzen oder Verluste hinzukamen, dann konnte er zu den Schmerzen sagen: » Wartet nur, noch zwei Jahre, dann bin ich euer Herr!« Und dann vertiefte er sich mit Liebe in die Vorstellung, wie an seinem fünfzigsten Geburtstag morgens die Briefe und Gratulationen ankommen würden, während er, seines Rasiermessers sicher, Abschied von allen Schmerzen nahm und die Tür hinter sich zuzog. Dann konnte die Gicht in den Knochen, dann konnten Schwermut, Kopfschmerz und Magenweh sehen, wo sie blieben.

Es erübrigt noch, das Einzelphänomen des Steppenwolfes, und namentlich sein eigentümliches Verhältnis zum Bürgertum, dadurch zu erklären, daß wir diese Erscheinungen auf ihre Grundgesetze zurückführen. Nehmen wir, da dies sich von selbst anbietet, ebenjenes sein Verhältnis zum »Bürgerlichen« zum Ausgangspunkt!

Der Steppenwolf stand, seiner eigenen Auffassung zufolge, gänzlich außerhalb der bürgerlichen Welt, da er weder Familienleben noch sozialen Ehrgeiz kannte. Er fühlte sich durchaus als Einzelnen, als Sonderling bald und krankhaften Einsiedler, bald auch als übernormal, als ein geniemäßig veranlagtes, über die kleinen Normen des Durchschnittslebens erhabenes Individuum. Mit Bewußtsein verachtete er den Bourgeois und war stolz darauf, keiner zu sein. Dennoch lebte er in mancher Hinsicht ganz und gar bürgerlich, er hatte Geld auf der Bank und unterstützte arme Verwandte, er kleidete sich zwar sorglos, doch anständig und unauffällig, er suchte mit der Polizei, dem Steueramt und ähnlichen Mächten in gutem Frieden zu leben. Außerdem aber zog ihn eine starke, heimliche Sehnsucht beständig zur bürgerlichen Kleinwelt, zu den stillen, anständigen Familienhäusern mit sauberen Gärtchen, blankgehaltenem Treppenhaus und ihrer ganz bescheidenen Atmosphäre von Ordnung und Wohlanständigkeit. Es gefiel ihm, seine kleinen Laster und Extravaganzen zu haben, sich als außerbürgerlich, als Sonderling oder Genie zu fühlen, doch hauste und lebte er, um es so auszudrücken, niemals in den Provinzen des Lebens, wo keine Bürgerlichkeit mehr existiert. Er war weder in der Luft der Gewalt- und Ausnahmemenschen zu Hause noch bei den Verbrechern oder Entrechteten, sondern blieb immer in der Provinz der Bürger wohnen, zu deren Gewohnheiten, zu deren Norm und Atmosphäre er stets in Beziehung stand, sei es auch in der des Gegensatzes und der Revolte. Außerdem war er in kleinbürgerlicher Erziehung aufgewachsen und hatte von dort her eine Menge von Begriffen und Schablonen beibehalten. Er hatte theoretisch nicht das mindeste gegen das Dirnentum, wäre aber unfähig gewesen, persönlich eine Dirne ernst zu nehmen und wirklich als seinesgleichen zu betrachten. Den politischen Verbrecher, den Revolutionär oder den geistigen Verführer, den Staat und Gesellschaft ächteten, vermochte er als seinen Bruder zu lieben, aber mit einem Dieb, Einbrecher, Lustmörder hätte er nichts anzufangen gewußt, als sie auf eine ziemlich bürgerliche Art zu bedauern.

Auf diese Weise anerkannte und bejahte er stets mit der einen Hälfte seines Wesens und Tuns das, was er mit der anderen bekämpfte und verneinte. In einem kultivierten Bürgerhause aufgewachsen, in fester Form und Sitte, war er mit einem Teil seiner Seele stets an den Ordnungen dieser Welt hängengeblieben, auch nachdem er sich längst über das im Bürgerlichen mögliche Maß hinaus individualisiert und sich vom Inhalt bürgerlichen Ideals und Glaubens längst befreit hatte.

Das »Bürgerliche« nun, als ein stets vorhandener Zustand des Menschlichen, ist nichts andres als der Versuch eines Ausgleiches, als das Streben nach einer ausgeglichenen Mitte zwischen den zahllosen Extremen und Gegensatzpaaren menschlichen Verhaltens. Nehmen wir irgendeines dieser Gegensatzpaare als Beispiel, etwa das des Heiligen und des Wüstlings, so wird unser Gleichnis alsbald verständlich werden. Der Mensch hat die Möglichkeit, sich ganz und gar dem Geistigen, dem Annäherungsversuch ans Göttliche, hinzugeben, dem Ideal des Heiligen. Er hat umgekehrt auch die Möglichkeit, sich ganz und gar dem Triebleben, dem Verlangen seiner Sinne hinzugeben und sein ganzes Streben auf den Gewinn von augenblicklicher Lust zu richten. Der eine Weg führt zum Heiligen, zum Märtyrer des Geistes, zur Selbstaufgabe an Gott. Der andre Weg führt zum Wüstling, zum Märtyrer der Triebe, zur Selbstaufgabe an die Verwesung. Zwischen beiden nun versucht in temperierter Mitte der Bürger zu leben. Nie wird er sich aufgeben, sich hingeben, weder dem Rausch noch der Askese, nie wird er Märtyrer sein, nie in seine Vernichtung willigen – im Gegenteil sein Ideal ist nicht Hingabe, sondern Erhaltung des Ichs, sein Streben gilt weder der Heiligkeit noch deren Gegenteil, Unbedingtheit ist ihm unerträglich, er will zwar Gott dienen, aber auch dem Rausche, will zwar tugendhaft sein, es aber auch ein bißchen gut und bequem auf Erden haben. Kurz, er versucht es, in der Mitte zwischen den Extremen sich anzusiedeln, in einer gemäßigten und bekömmlichen Zone ohne heftige Stürme und Gewitter, und dies gelingt ihm auch, jedoch auf Kosten jener Lebens- und Gefühlsintensität, die ein aufs Unbedingte und Extreme gerichtetes Leben verleiht. Intensiv leben kann man nur auf Kosten des Ichs. Der Bürger nun schätzt nichts höher als das Ich (ein nur rudimentär entwickeltes Ich allerdings). Auf Kosten der Intensität also erreicht er Erhaltung und Sicherheit, statt Gottbesessenheit erntet er Gewissensruhe, statt Lust Behagen, statt Freiheit Bequemlichkeit, statt tödlicher Glut eine angenehme Temperatur. Der Bürger ist deshalb seinem Wesen nach ein Geschöpf von schwachem Lebensantrieb, ängstlich, jede Preisgabe seiner selbst fürchtend, leicht zu regieren. Er hat darum an Stelle der Macht die Majorität gesetzt, an Stelle der Gewalt das Gesetz, an Stelle der Verantwortung das Abstimmungsverfahren.

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