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»Warum hat er das wohl gesagt, daß es hier so gut rieche?« fragte ich.

Da sagte meine Tante, welche manchmal recht gute Ahnungen hat: »Das weiß ich ganz genau. Es riecht hier bei uns nach Sauberkeit und Ordnung und nach einem freundlichen und anständigen Leben, und das hat ihm gefallen. Er sieht aus, wie wenn er daran nicht mehr gewöhnt wäre und es entbehrt hätte.«

Nun ja, dachte ich, meinetwegen. »Aber«, sagte ich, »wenn er an ein ordentliches und anständiges Leben nicht gewöhnt ist, wie soll dann das werden? Was willst du machen, wenn er unreinlich ist und alles verdreckt oder wenn er zu allen Nachtstunden besoffen heimkommt?«

»Das werden wir ja sehen«, sagte sie und lachte, und ich ließ es gut sein.

Und in der Tat waren meine Befürchtungen unbegründet. Der Mieter, obwohl er keineswegs ein ordentliches und vernünftiges Leben führte, hat uns nicht belästigt noch geschädigt, wir denken noch heute gerne an ihn. Im Innern aber, in der Seele, hat dieser Mann uns beide, die Tante und mich, doch sehr viel gestört und belästigt, und offen gesagt, bin ich noch lange nicht mit ihm fertig. Ich träume nachts manchmal von ihm und fühle mich durch ihn, durch die bloße Existenz eines solchen Wesens, im Grunde gestört und beunruhigt, obwohl er mir geradezu lieb geworden ist.

Zwei Tage später brachte ein Fuhrmann die Sachen des Fremden, der Harry Haller hieß. Ein sehr schöner Lederkoffer machte mir einen guten Eindruck, und ein großer flacher Kabinenkoffer schien auf frühere weite Reisen zu deuten, wenigstens war er beklebt mit den vergilbten Firmenzetteln von Hotels und Transportgesellschaften verschiedener, auch überseeischer Länder.

Dann erschien er selbst, und es begann die Zeit, in der ich diesen sonderbaren Mann allmählich kennenlernte. Anfangs tat ich von meiner Seite nichts dazu. Obwohl ich mich für Haller von der ersten Minute an, in der ich ihn sah, interessierte, tat ich in den ersten paar Wochen doch keinen Schritt, um ihn anzutreffen oder ins Gespräch mit ihm zu kommen. Dagegen habe ich allerdings, dies muß ich gestehen, schon von allem Anfang an den Mann ein wenig beobachtet, auch zuweilen während seiner Abwesenheit sein Zimmer betreten und überhaupt aus Neugierde ein klein wenig Spionage getrieben.

Über das Äußere des Steppenwolfes habe ich einige Angaben schon gemacht. Er machte durchaus und gleich beim ersten Anblick den Eindruck eines bedeutenden, eines seltenen und ungewöhnlich begabten Menschen, sein Gesicht war voll Geist, und das außerordentlich zarte und bewegliche Spiel seiner Züge spiegelte ein interessantes, höchst bewegtes, ungemein zartes und sensibles Seelenleben. Wenn man mit ihm sprach und er, was nicht immer der Fall war, die Grenzen des Konventionellen überschritt und aus seiner Fremdheit heraus persönliche, eigene Worte sagte, dann mußte unsereiner sich ihm ohne weiteres unterordnen, er hatte mehr gedacht als andre Menschen und hatte in geistigen Angelegenheiten jene beinah kühle Sachlichkeit, jenes sichere Gedachthaben und Wissen, wie es nur wahrhaft geistige Menschen haben, welchen jeder Ehrgeiz fehlt, welche niemals zu glänzen oder den andern zu überreden oder recht zu behalten wünschen.

Eines solchen Ausspruches, welcher aber nicht einmal ein Ausspruch war, sondern lediglich in einem Blick bestand, erinnere ich mich aus der letzten Zeit seines Hierseins. Da hatte ein berühmter Geschichtsphilosoph und Kulturkritiker, ein Mann von europäischem Namen, einen Vortrag in der Aula angekündigt, und es war mir gelungen, den Steppenwolf, der erst gar keine Lust dazu hatte, zum Besuch des Vortrags zu überreden. Wir gingen zusammen hin und saßen im Hörsaal nebeneinander. Als der Redner seine Kanzel bestieg und seine Ansprache begann, enttäuschte er manche Zuhörer, welche eine Art von Propheten in ihm vermutet hatten, durch die etwas geschniegelte und eitle Art seines Auftretens. Als er nun zu reden begann und zum Beginn den Zuhörern einige Schmeicheleien sagte und für ihr zahlreiches Erscheinen dankte, da warf mir der Steppenwolf einen ganz kurzen Blick zu, einen Blick der Kritik über diese Worte und über die ganze Person des Redners, oh, einen unvergeßlichen und furchtbaren Blick, über dessen Bedeutung man ein ganzes Buch schreiben könnte! Der Blick kritisierte nicht bloß jenen Redner und machte den berühmten Mann durch seine zwingende, obwohl sanfte Ironie zunichte, das war das wenigste daran. Der Blick war viel eher traurig als ironisch, er war sogar abgründig und hoffnungslos traurig; eine stille, gewissermaßen schon Gewohnheit und Form gewordene Verzweiflung war der Inhalt dieses Blickes. Er durchleuchtete mit seiner verzweifelten Helligkeit nicht bloß die Person des eitlen Redners, ironisierte und erledigte die Situation des Augenblicks, die Erwartung und Stimmung des Publikums, den etwas anmaßenden Titel der angekündigten Ansprache – nein, der Blick des Steppenwolfes durchdrang unsre ganze Zeit, das ganze betriebsame Getue, die ganze Streberei, die ganze Eitelkeit, das ganze oberflächliche Spiel einer eingebildeten, seichten Geistigkeit – ach, und leider ging der Blick noch tiefer, ging noch viel weiter, als bloß auf Mängel und Hoffnungslosigkeiten unserer Zeit, unsrer Geistigkeit, unsrer Kultur. Er ging bis ins Herz alles Menschentums, er sprach beredt in einer einzigen Sekunde den ganzen Zweifel eines Denkers, eines vielleicht Wissenden aus an der Würde, am Sinn des Menschenlebens überhaupt. Dieser Blick sagte: »Schau, solche Affen sind wir! Schau, so ist der Mensch!«, und alle Berühmtheit, alle Gescheitheit, alle Errungenschaften des Geistes, alle Anläufe zur Erhabenheit, Größe und Dauer im Menschlichen fielen zusammen und waren ein Affenspiel!

Ich habe damit weit vorgegriffen und, eigentlich gegen meinen Plan und Willen, im Grunde schon das Wesentliche über Haller gesagt, während es ursprünglich meine Absicht war, sein Bild nur allmählich, im Erzählen meines stufenweisen Bekanntwerdens mit ihm zu enthüllen.

Nachdem ich nun denn so vorgegriffen habe, erübrigt es sich, noch weiter über die rätselhafte »Fremdheit« Hallers zu sprechen und im einzelnen zu berichten, wie ich allmählich die Gründe und Bedeutungen dieser Fremdheit, dieser außerordentlichen und furchtbaren Vereinsamung ahnte und erkannte. Es ist besser so, denn ich möchte meine eigene Person möglichst im Hintergrunde lassen. Ich will nicht meine Bekenntnisse vortragen oder Novellen erzählen oder Psychologie treiben, sondern lediglich als Augenzeuge etwas zum Bild des eigentümlichen Mannes beitragen, der diese Steppenwolfmanuskripte hinterlassen hat.

Schon beim allerersten Anblick, als er durch die Glastür der Tante hereintrat, den Kopf so vogelartig reckte und den guten Geruch des Hauses rühmte, war mir irgendwie das Besondere an diesem Manne aufgefallen, und meine erste naive Reaktion darauf war Widerwille gewesen. Ich spürte (und meine Tante, die im Gegensatz zu mir ganz und gar kein intellektueller Mensch ist, spürte ziemlich genau dasselbe) – ich spürte, daß der Mann krank sei, auf irgendeine Art geistes- oder gemüts- oder charakterkrank, und wehrte mich dagegen mit dem Instinkt des Gesunden. Diese Abwehr wurde im Lauf der Zeit abgelöst durch Sympathie, beruhend auf einem großen Mitleid mit diesem tief und dauernd Leidenden, dessen Vereinsamung und inneres Sterben ich mit ansah. In dieser Periode kam mir mehr und mehr zum Bewußtsein, daß die Krankheit dieses Leidenden nicht auf irgendwelchen Mängeln seiner Natur beruhe, sondern im Gegenteil nur auf dem nicht zur Harmonie gelangten großen Reichtum seiner Gaben und Kräfte. Ich erkannte, daß Haller ein Genie des Leidens sei, daß er, im Sinne mancher Aussprüche Nietzsches, in sich eine geniale, eine unbegrenzte, furchtbare Leidensfähigkeit herangebildet habe. Zugleich erkannte ich, daß nicht Weltverachtung, sondern Selbstverachtung die Basis seines Pessimismus sei, denn so schonungslos und vernichtend er von Institutionen oder Personen reden konnte, nie schloß er sich aus, immer war er selbst der erste, gegen den er seine Pfeile richtete, war er selbst der erste, den er haßte und verneinte …