Der Schiffer der »Gallinetta« sprach spanisch. Der junge Mann richtete häufig verschiedene Fragen an ihn, die Valdez willig beantwortete. Am Abend, als die Falca sich mehr dem rechten Ufer näherte, sagte Valdez zu Jean:
»Dort sehen Sie Capuchino, eine alte, aber schon längst verlassene Mission.
- Denken Sie da anzulegen, Valdez? fragte Jean.
- Das ist nicht zu umgehen, da der Wind in der Nacht ganz abflauen wird. Uebrigens befährt man schon aus Vorsicht den Orinoco nur am Tage, denn viele enge Fahrstellen wechseln zu häufig in ihrer Lage und man braucht unbedingt helle Beleuchtung, um sich zurecht zu finden.«
Die Schiffer pflegen in der That jeden Tag an einem der Ufer oder einer Insel anzulegen. Auch die »Maripare« ging jetzt am Strande von Capuchino ans Land. Nach dem Abendessen, bei dem einige von den Fischern von Cabruto erkaufte Fische von der Art der Dorades aufgetragen wurden, verfielen die Passagiere der Piroguen bald in tiefen Schlaf.
Wie der Schiffer Valdez vorausgesagt hatte, legte sich der Wind schon in den ersten Nachtstunden ganz und gar, sprang aber mit Tagesanbruch wieder auf und wehte stetig aus Nordost. Die Segel wurden also gehißt, und mit dem Winde im Rücken trieben die beiden Falcas ohne Unfall den Strom hinaus.
Capuchino gegenüber zeigte sich die Mündung des Apurito, eines Armes des Apure. Das eigentliche Delta dieses mächtigen Nebenflusses wurde erst zwei Stunden später sichtbar. Auf diesem Nebenflusse dampft der »Simon Bolivar«, nachdem er Caicara verlassen hat, weiter nach den im Westen von den Anden begrenzten Gebieten Columbias.
Mit Bezug hierauf fragte Herr Miguel seine beiden Gefährten, warum denn der Apure nicht weit eher als der Atabapo oder Guaviare der eigentliche Orinoco sein könne.
»Sapperment! fuhr Herr Felipe auf. Kann denn der Apure überhaupt etwas anderes sein, als der Zufluß eines Stromes, der hier fast dreitausend Meter breit ist?
- Und ist sein Wasser nicht trüb und weißlich, rief Herr Varinas, während das hier schon von Ciudad-Bolivar an klar und durchsichtig ist?
- Das geb' ich zu, sagte Herr Miguel lächelnd, wir wollen den Apure also außer Concurs setzen; unterwegs finden sich schon noch andre Mitbewerber.«
Herr Miguel hätte hier wenigstens anführen können, daß der Apure unvergleichlich reichere Ilanos als die des Orinoco befruchtet und daß er ihn wirklich nach Westen fortzusetzen scheint, während letzterer, einen scharfen Winkel bildend, von San-Fernando her aus Süden heranströmt. Auf einer Strecke von fünfhundert Kilometern, fast bis nach Palmirito, folgen die Dampfer, die von seiner Mündung nicht weiter (den Orinoco) hinausfahren können, seinem wasserreichen Laufe. Man hat ihn mit Recht den »Strom der Ilanos« genannt, der weiten, für jede Cultur geeigneten Flächen, die vorzüglich zur Aufzucht von Schlachtvieh dienen und die kräftigste und arbeitsamste Bevölkerung des innern Venezuela aufweisen.
Hier hätte erwähnt werden können - und Jean sollte sich davon mit eignen Augen überzeugen - daß es in dem weniger durchsichtigen Wasser von Kaimans wimmelt, die sich infolge dieser Eigenschaft ihrer Beute weit leichter nähern können. Mehrere solcher ungeschlachter Saurier tummelten sich zuweilen nur wenige Fuß von der »Gallinetta«. Volle sechs Meter lang, kommen diese Riesen vom Krokodilgeschlechte in den Nebenflüssen des Orinoco in großer Menge vor, während die in den Flußläufen, die die Ilanos durchschneiden, von geringerer Größe sind.
Auf eine bezügliche, von dem jungen Manne gestellte Frage antwortete der Schiffer Valdez:
»Wirklich gefährlich sind diese Bestien nicht alle, denn es giebt welche - unter andern die Bavas - die nicht einmal einen Badenden angreifen. Die Cebados freilich, das sind die Burschen, die schon Menschenfleisch gekostet haben, würden nicht zaudern, bis in die Boote zu dringen und Einen mit Haut und Haar zu verzehren!
- Na, sie sollen nur herankommen! rief der Sergeant Martial.
- Nein, sie mögen uns fern bleiben, lieber Onkel!« antwortete Jean, indem er auf eines der ungeheuern Thiere hinwies, dessen mächtige Kiefern sich geräuschvoll öffneten und schlossen.
Krokodile sind es übrigens nicht allein, die die Gewässer des Orinoco und seiner Nebenflüsse unsicher machen; man trifft auch Cariben, das sind Fische von solcher Körperkraft daß sie die stärksten Angelhaken mit einem Schlage zerbrechen, und deren, von dem Worte Caraiba abgeleiteter Name sie als Wasser-Cannibalen kennzeichnet. Außerdem hat man alle
Ursache, sich vor den Zitterrochen und Zitteraalen zu hüten, vor jenen Gymnoten, die hier Trembladors (Erschütterer) genannt werden. Mit einem sehr sinnreich zusammengesetzten (elektrischen) Organe ausgerüstet, tödten sie andere Fische mit ihren Entladungsschlägen, die auch ein Mensch nicht ungestraft aushalten würde.
Im Laufe dieses Tages segelten die Falcas an mehreren Inseln vorüber, längs deren Ufer die Strömung sehr stark war, so daß zum Fortkommen wiederholt die an einer dicken Wurzel befestigte Espilla zu Hilfe gezogen werden mußte.
Beim Vorüberfahren an der Insel Verija de Mono, die ein fast undurchdringlicher Urwald bedeckt, krachten an Bord der »Maripare« plötzlich mehrere Schüsse. Ein halbes Dutzend Wildenten fiel auf das Wasser herunter. Herr Miguel und seine Freunde waren es gewesen, die sich hier als treffliche Schützen erwiesen hatten.
Bald darauf näherte sich der Curiare der andern Pirogue der »Gallinetta«.
»Zur Abwechslung im gewohnten Speisezettel!« rief Herr Miguel, der ein Paar der schmackhaften Vögel anbot.
Jean von Kermor dankte Herrn Miguel verbindlich, während der Sergeant Martial nur eine Art Dank brummte.
Nachdem er den jungen Mann gefragt, wie er die beiden ersten Reisetage verlebt hätte, und eine befriedigende Antwort erhalten hatte, wünschte Herr Miguel dem Neffen wie dem Onkel noch eine gute Nacht und fuhr in dem Curiare wieder davon.
Mit Anbruch der Nacht wurden die beiden Falcas an der Insel Pajaral vertäut, da das rechte Ufer des Stromes vielfach mit erratischen Blöcken bedeckt war, auf denen Chaffanjon zahlreiche Inschriften entdeckt hatte, die von den Strom bereisenden Händlern mit dem Messer eingeritzt waren.
Das Abendessen wurde mit gutem Appetit verzehrt. Die Enten - zubereitet von dem Sergeanten Martial, der sich wie der Cantineninhaber eines Regiments auf die Kochkunst verstand - lieferten ein saftiges, herrlich duftendes Fleisch, das denen der europäischen Arten weit überlegen ist. Um neun Uhr ging man zu Bett, oder der junge Mann streckte sich wenigstens auf der Estera in dem ihm als Schlafzimmer dienenden Raume des Deckhauses aus, wo ihn der Onkel, seiner Gewohnheit getreu, mit dem Muskitonetze sorgsam umhüllte.
Das erwies sich als eine sehr nothwendige Vorsicht. Wie viele Muskitos und was für Muskitos schwirrten hier umher! Wenn man dem Sergeanten Martial glauben darf, hatte Chaffanjon gewiß nicht übertrieben, als er behauptete daß diese »vielleicht die größte Schwierigkeit bei einer Bereisung des Orinoco bilden«. Myriaden giftiger Stacheln verletzen den Menschen hier ohne Unterlaß, und jeder Stich erzeugt eine entzündete Stelle, die noch nach vierzehn Tagen Schmerzen verursacht, wenn sie nicht gar ein heftiges Fieber auslöst.
Wie aufmerksam breitete der Onkel aber auch den schützenden Schleier über die Lagerstätte des Neffen! Und dazu qualmte seine Pfeife wie ein Schornstein, um die schrecklichen Insecten für den Augenblick zu vertreiben. Suchten aber einzelne durch schlecht geschlossene Falten des Netzes zu schlüpfen, so tödtete er sie durch einen Schlag mit der Hand.
»Mein lieber Martial, Du wirst Dir noch die Hand verstauchen! So viele Mühe brauchst Du Dir nicht zu machen; mich hindert schon nichts mehr am Schlafen.