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Zum Glück war Buena Vista ziemlich verschont geblieben, da sich der Chubasco etwas weiter nach Westen hinzog.

Buena Vista liegt an der Seite einer Insel, vor der sich in der trocknen Jahreszeit noch lange Sandbänke ausdehnen, die das Hochwasser in der Regenzeit immer bemerkbar abwäscht. Der augenblickliche Wasserstand hatte der »Gallinetta« und der »Maripare« gestattet, ganz nahe vor dem Dorfe anzulegen.

Vor dem Dorfe?. Das bestand ja nur aus einer Gruppe von Hütten, worin etwa hundertfünfzig bis zweihundert Indianer Unterkommen fanden. Auch diese kommen nur hierher zum Einsammeln von Schildkröteneiern, aus denen sie ein auf den Märkten Venezuelas recht begehrtes Oel zu bereiten verstehen. In der Mitte des August ist das Dorf nahezu verlassen, denn die Regenzeit geht in der Hälfte des Mai zu Ende. Jetzt befanden sich in Buena Vista kaum ein halbes Dutzend Indianer, die von der Jagd und vom Fischfang lebten und bei denen sich die Piroguen, wenn das nöthig geworden wäre, nicht hätten frisch verproviantieren können. Deren Vorräthe waren aber nicht erschöpft, sie reichten jedenfalls bis zu dem Flecken la Urbana aus, wo sie leicht erneuert werden konnten.

Von größter Wichtigkeit war hier nur, daß die Piroguen von den Windstößen nicht gelitten hatten.

Auf den Rath der Schiffer hin waren die Passagiere übrigens für die Nacht ans Land gegangen. Eine eingeborne Familie, die eine ziemlich saubre Hütte bewohnte, hatte ihnen Unterkunft gewährt. Diese Indianer gehörten zum Stamme der Yaruros, die man früher zu den ersten des Landes zählte und die, abweichend von ihren Stammesgenossen, auch nach der Legezeit der Schildkröten in Buena Vista zurückgeblieben waren.

Die Familie bestand aus dem Hausvater - einem kräftigen, mit dem Guayaco und dem üblichen Lendenschurz bekleideten Manne - seiner Frau, die das lange indianische Hemd trug, noch ziemlich jung, klein von Gestalt, doch gut gewachsen war, und aus einem zwölfjährigen Kinde, das wie seine Eltern in völliger Wildheit aufgewachsen war. Für Geschenke, die ihre Gäste ihnen anboten, für Tafia und Cigarren für den Mann und Glashalsbänder und Spiegel für die Frau und die Tochter, waren die Leute indeß recht empfänglich. Solche Dinge werden von den Eingebornen Venezuelas noch immer sehr hoch geschätzt.

Die Hütte enthielt an Ausstattung nichts weiter als Hängematten, die an den Bambusstangen des Daches befestigt waren, und drei oder vier jener, von den Indianern Canastos genannten Körbe, worin diese ihre Kleidungsstücke und ihre werthvollsten Geräthe aufheben.

So unangenehm es dem Sergeanten Martial auch sein mochte, jetzt mußte er sich schon dazu bequemen, mit den Insassen der »Maripare« zusammen zu übernachten, denn er und sein Neffe hätten doch in keiner andern Hütte unterkommen können. Herr Miguel zeigte sich den beiden Franzosen gegenüber noch zuvorkommender als seine beiden Collegen. Jean von Kermor, der sich etwas zurückhaltend benahm, wozu die wüthenden Blicke seines Onkels das ihrige beitrugen, hatte dabei dennoch Gelegenheit, mit seinen Reisegesellschaftern nähere Bekanntschaft zu machen. Außerdem wurde er förmlich gekapert - das ist das richtige Wort - von der kleinen Eingebornen, die sich durch sein angenehmes Wesen offenbar sehr angezogen fühlte.

In der Hütte wurde nun geplaudert, während draußen das Unwetter wüthete. Das Gespräch erlitt aber manche Unterbrechung, da es häufig so furchtbar donnerte, daß keiner den andern hätte verstehen können. Weder die Indianer noch das kleine Mädchen zeigten Furcht, selbst wenn Blitz und Donner wie mit einem Schlage erfolgten. Am nächsten Morgen zeigte sich übrigens, daß verschiedene Bäume in der Nähe vom Blitze getroffen und gespalten worden waren.

Die an ähnliche Unwetter auf dem Orinoco gewöhnten Indianer werden davon offenbar weniger beeinflußt, als selbst die Thiere. Ihre Nerven widerstehen einer solchen physischen und seelischen Erschütterung. Nicht ganz so erging es dem jungen Manne, und wenn dieser auch keine »eigentliche Furcht vor dem Donner« wie man sagt, hatte, so empfand er doch jene nervöse Unruhe, von der so häufig auch kräftige Naturen nicht verschont bleiben.

Bis Mitternacht dauerte die Unterhaltung der Gäste des Indianers, und der Sergeant Martial hätte daran gewiß lebhaftes Interesse genommen wenn er die spanische Sprache ebenso gut verstanden hätte, wie sein Neffe.

Das von den Herren Miguel, Felipe und Varinas eingeleitete Gespräch bezog sich in der Hauptsache auf die Beschäftigung, die jedes Jahr, doch drei Monate früher, viele Hunderte Indianer nach diesem Theil des Stromes heranzieht.

Schildkröten giebt es ja auch anderwärts an den Ufern des Orinoco, doch nirgends in so großen Mengen, wie auf den Sandbänken zwischen dem Rio Cabullare und dem Flecken la Urbana. Wie der Indianer erzählte, der, mit den Gewohnheiten des Chelidonier-Geschlechts sehr vertraut, vorzüglich bewandert in der Jagd und im Fischfang - diese Worte ergänzen sich hier zu einer Bedeutung - zu sein schien, tauchen die Schildkröten hier vom Februar an, man übertreibt nicht, wenn man sagt, zu vielen Hunderttausenden auf.

Natürlich konnte der mit der naturwissenschaftlichen Classification nicht vertraute Indianer nicht angeben, zu welcher Art jene Schildkröten gehörten, die sich auf den Geländen längs des Orinoco so ungeheuerlich vermehrt haben. Er begnügte sich damit, sie zu fangen, ganz ebenso wie die Guarahibos, die Otomacos und andre Indianerstämme, denen sich auch die Mestizen von den benachbarten Ilanos anschlossen; er sammelte die Eier der Thiere ein und bereitete daraus das gesuchte Oel auf gleich einfache Weise, wie man das aus den Oliven gewinnt. Als Aufnahmegefäß dient hier gleich das Canot, das man auf den flachen Strand zieht; darin stehen Körbe, in die man die Eier wirst; ein Stock dient noch dazu, sie zu zerbrechen, und dann fließt deren mit Wasser vermengter Inhalt einfach in das Canot aus. Eine Stunde später ist das Oel zur Oberfläche aufgestiegen, das erhitzt man dann, um darin enthaltenes Wasser zu verdampfen und das Oel zu klären - damit ist die Operation beendet.

»Und dieses Oel ist, wie es scheint, von vortrefflicher Art, sagte Jean, der sich in dieser Beziehung auf die Angaben seines geschätzten Führers stützte.

- Gewiß, ganz vortrefflicher Art, versicherte Herr Felipe.

- Zu welcher Familie gehören diese Schildkröten? fragte der junge Mann.

- Zur Cinosternon-Sippe der Scorpioi'den, antwortete Herr Miguel, und diese Thiere, deren Rückenschild fast einen Meter mißt, erreichen häufig ein Gewicht von hundertfünfzig Pfund.«

Da Herr Varinas seine Specialkenntnisse von der Ordnung der Chelidonier noch nicht zum Besten gegeben hatte, bemerkte er, daß der richtige wissenschaftliche Name der Scorpioi'den seines Freundes Miguel Podocnemis dumerilianus laute, eine Bezeichnung, für die sich der Indianer natürlich nicht im mindesten interessierte.

»Noch eine Frage, begann da Jean von Kermor, sich an Herrn Miguel wendend.

- Du sprichst zu viel, lieber Neffe, murmelte der Sergeant Martial, während er sich den Schnurrbart drehte.

- Herr Sergeant, fragte Herr Miguel lächelnd, warum wollen Sie Ihren Neffen hindern, sich belehren zu lassen?

- Weil, nun weil er von solchen Sachen nicht mehr zu wissen braucht, als sein Onkel!

- Ja, ja, Du hast ja recht, geehrter Mentor, erwiderte der junge Mann; ich frage aber doch: können diese Thiere irgendwie gefährlich werden?

- Durch ihre große Zahl, ja, erklärte Herr Miguel; man würde nicht wenig Gefahr laufen, wenn man ihnen, sobald sie so zu Hunderttausenden dahinziehen, in den Weg käme.

- Zu Hunderttausenden!

- Gewiß, Herr Jean, da man nicht weniger als fünfzig Millionen Eier jährlich nur für die zehntausend großen Flaschen sammelt, die mit dem Oel aus den erbeuteten Thieren gefüllt werden. Da nun jede Schildkröte etwa hundert Eier legt und, obgleich Raubthiere eine ansehnliche Menge davon vernichten, doch immer noch genug Schildkröten übrig bleiben, um die Rasse dauernd zu erhalten, schätze ich deren Zahl auf den Sandbänken der Manteca, hier in diesem Theile des Orinoco, wenigstens auf eine Million.«

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