»Du hast lange gebraucht, um mich zu erkennen«, klang es in seinem Kopf.
Was für ein Diener des Namenlosen Gottes mochte sich nur hinter dieser Kreatur verbergen? »Was bist du, Zerwas? Bist du auch der Henker, von dem in dieser Akte die Rede ist? Verbirgst du dich hinter all den Scharfrichtern, die das geflammte schwarze Schwert trugen?« Vor seinem geistigen Auge sah der Inquisitor, wie der böse Geist des Zerwas seit Jahrhunderten die Stadt heimsuchte.
»Bin ich ein Narr, dir meine Geheimnisse zu verraten?« Die Gestalt bleckte ihre tödlichen Reißzähne und hob eine ihrer Klauenhände wie zum Schlag.
Marcian wich einen Schritt zurück. »Was willst du von mir, Zerwas? Was willst du von Greifenfurt?«
»Blut und Leben! Ich will die Stadt leiden sehen, so wie die Stadt mich hat leiden sehen, und du, Marcian, bist schon lange zum Vollstrecker meiner Wünsche geworden. Du hast Greifenfurt in den Kampf mit den Orks geführt, und das wird der Untergang der Stadt sein. Hätten die Bürger gewartet, bis der Prinz kommt, was wäre ihnen schon geschehen? Doch nun wird Greifenfurt zum Grab für seine Bürger werden.« »Weiche von mir, Kreatur der Finsternis, oder du wirst die Macht der Inquisition zu spüren bekommen, so wie es schon einmal geschehen ist!« Marcian machte einen Ausfallschritt und versuchte, der Bestie die Kehle aufzuschlitzen, doch gewandt wie eine Katze wich sie aus. »Mich nennst du Kreatur der Finsternis, doch ich bin aufrichtiger als du. Ich schicke niemandem einen Spion bei Nacht. Ich komme selbst, und ich lebe, was ich bin. Doch was bist du, hochmütiger Inquisitor? Ein Mann, der zu einer Hure von Liebe redet, wenn er einsam ist, der aber nicht den Mut hat, sich öffentlich zu ihr zu bekennen. Und warst du nicht derjenige, der Sartassa in den Tod geschickt hat? Du mußtest wissen, daß ich, wenn ich Finsteres im Schilde führe und sie meine Geheimnisse entdeckt, keine andere Wahl haben würde, als sie zu töten. Hat dich das abgehalten? Du, Marcian, spielst dich hier als Retter der Stadt auf. Dabei bist du nicht einmal ehrlich genug, den Leuten, die du retten willst, zu sagen, was du wirklich bist. Ich verachte dich!« Marcian preßte die Hände gegen die Schläfen. Er versuchte, sich gegen diese verleumderischen Gedanken zu sperren. Er mußte ihnen Widerstand leisten. Sie widerlegen. »Rede du mir nicht von Masken, Bestie! Spielst du nicht den Bürgern genauso ein Spiel vor? Was anderes ist dein Zerwas als ein Sinnentrug?«
»Ich, Marcian, betrüge mich wenigstens nicht selbst. Ich weiß, was ich bin. Ich weiß, was ich will, und ich handle danach. Brauche ich Blut, dann nehme ich es mir und habe deshalb kein schlechtes Gewissen. Doch was tust du? Du verheimlichst deine Gelüste, deine Triebe, deine dunkle Seite. Könnte ein Mann Inquisitor werden, der nichts Böses in sich trägt. - Nein! Denn er könnte keinem unschuldigen Opfer die Daumenschrauben anlegen. Du und ich, Marcian, wir sind uns ähnlicher, als du zugeben magst. Doch ich lebe meine dunkle Seite aus. Ich bekenne mich dazu. Wohingegen du dabei bist, eine ganze Stadt mit dir in den Abgrund zu reißen.«
Mit einem Aufschrei warf sich der Inquisitor auf die Kreatur. Sein Schwert hatte er fallen lassen. Er raste vor Wut und dachte nicht mehr nach. Er wollte dieses widerwärtige Geschöpf mit bloßen Händen töten! Vergebens! Mit unirdischer Kraft entwand sich die Bestie seinem Griff und schleuderte ihn mit spielerischer Leichtigkeit gegen die Wand. Mühsam rappelte er sich auf. Der Dämon griff mit der rechten Hand nach dem, was er zwischen seinen Flügeln festgeschnallt hatte, das geflammte schwarze Richtschwert.
Marcians Kehle wurde trocken. Schlug nun seine letzte Stunde? Ohne die Kreatur aus den Augen zu lassen, bückte er sich nach seiner Waffe. Der Dämon stand wie versteinert in der Mitte des Zimmers. Marcian versuchte, seine Angst zu unterdrücken, doch war ihm klar, daß die Bestie mit ihrem telepathischen Talent auch die kleinste seiner Gefühlsregungen wahrnehmen würde. Trotzig erklärte er: »Ich werde Greifenfurt retten, und ich schleiche nicht bei Nacht durch die Gassen, um ungesühnte Morde zu begehen.«
»Bist du wirklich so blind? Egal, wer letzten Endes gewinnt, die Kaiserlichen oder die Orks, von Greifenfurt wird nicht mehr als ein Haufen rauchender Trümmer bleiben. Und du willst mir sagen, du begehst keine ungesühnten Morde. In meinen Augen ist es Mord, wenn du einen Bürger, der ein paar Tage mit einem Holzschwert geübt hat, in die Schlacht führst. Ich jedenfalls habe in den letzten Tagen nicht annähernd so viele zu Boron geschickt wie du.«
»Ich werde dich vernichten, Zerwas. Du sprichst mit der Zunge des Bösen. Doch in mein Herz wirst du keinen Zweifel säen.« Leere Worte. Zerwas mußte sehen, welchen Erfolg er hatte. Und die Bestie fuhr unbeirrt fort.
»Und wäre es wahr, wäre das dann eine Tugend? Dein Ideal nenne ich blinde Verbohrtheit! Der Zweifel zeichnet den intelligenten Menschen aus. Doch vielleicht erwarte ich wirklich zu viel von dir? Vielleicht habe ich dich überschätzt? Nun denn, wir haben genug geredet. Ich werde dich schon noch dazu bringen, an den Tugenden der Inquisition zu zweifeln.«
Das Monstrum bleckte wieder seine Zähne. Geduckt wich es ein wenig zurück. Seinen Körper durchlief ein Zittern, so als schüttelten es Krämpfe. Der Inquisitor traute seinen Augen kaum. Es veränderte sich. Sein Brustkorb schrumpfte. Haut bedeckte das blutig rote Fleisch. Aus Klauen wurden Hände. Am schrecklichsten anzusehen war die Veränderung des Kopfes. Wie sich der Schädelknochen unter dem Fleisch verformte, so als wäre er nur Lehm in der Hand eines Töpfers. Aus dem flachen Schädel modellierte sich eine hohe Stirn. Platte Nüstern wurden zu einer geraden schönen Nase. Das Ungeheuer stöhnte vor Schmerz. In wenigen Atemzügen sproß ihm langes, schwarzes Haar aus dem Kopf und fiel über seine Schultern. Die Gestalt wurde zu Zerwas. Marcians Rechte krampfte sich um das Schwert. Jetzt war die Gelegenheit, ihn zu töten. Der Inquisitor stieß die Klinge nach der Kehle des Henkers. Vergebens.
Mit zitternder Hand parierte Zerwas den Schlag. Seine Verwandlung war nun fast abgeschlossen, und er wollte sein Spiel spielen. Wollte Angst in Marcians Augen sehen, um ihm zum Schluß seine Zähne in die Kehle zu treiben. Er sollte zum Vampir werden, wie jeder, dessen Blut er trank und den er nicht enthauptete. Ein Inquisitor, hinter dem sich ein Vampir verbarg! Letzte Nacht war ihm die Idee gekommen, und er fand sie von Stunde zu Stunde besser. Vergoß die Inquisition nicht genauso das Blut von Unschuldigen wie er? Inquisitoren töteten für eine Idee, eine Ideologie. Er tötete, um zu leben, weil es seine Natur war. War ein Wolf böse, weil er ein Schaf riß? Doch sie töteten alles, was nicht ihrem Weltbild entsprach. Die Inquisition war nichts anderes als ein tausendarmiges Monstrum, das ein ganzes Reich in seinem festen Griff hielt. Es wäre köstlich, einen Inquisitor zu einem wirklichen Vampir zu machen. Im Grunde hieße das nichts anderes, als ihm zu seiner wahren Gestalt zu verhelfen.
Wieder wich Zerwas geschickt den Hieben Marcians aus. Dann ging der Henker zum Gegenangriff über: Wie Hagelschlag prasselten seine Schwerthiebe auf den Inquisitor nieder, der Schritt um Schritt zurückweichen mußte und schließlich mit dem Rücken zur Wand stand. Zerwas entblößte seine tödlichen Fänge und sagte mit klarer Stimme: »Weißt du, was dein größter Fehler ist, Marcian? Der Irrtum, aus dem all deine anderen Fehler resultieren? Du versuchst immer und um jeden Preis, gerecht zu sein!«
Wie eine schwarze Flamme fuhr das Schwert des Henkers herab. Mit mörderischer Wut traf es die Klinge des Inquisitors, der erst im letzten Augenblick die Waffe hochriß, um den Schlag aufzufangen. Eine Welle von Schmerz durchlief Marcians rechten Arm. Seine Finger fühlten sich taub an und waren wie gelähmt. Ein zweiter Schlag prellte ihm die Waffe aus der Hand. Zerwas setzte den Fuß auf das Schwert.
»Nun, mein Freund, was nutzt dir dein Gerechtigkeitssinn jetzt?« höhnte der Vampir. »Wo ist dein Gott Praios? Du krankst daran, daß du nicht erkennen kannst, daß Gerechtigkeit nicht mehr als eine Idee ist. Auch wenn du dir größte Mühe gibst, wirst du es nie allen recht machen können. Eine gute Tat ist nur deshalb gut, weil du sie so definierst. Gib einem Bettler ein Goldstück, und jeder wird sagen, was für ein großherziger Mensch du bist. Doch was hat der Bettler davon? Für ein paar Tage kann er sich zu essen und zu trinken leisten, was er will, und darf in einem Bett schlafen. Doch sobald der letzte Heller ausgegeben ist, fällt er in die Gosse zurück. Dann bleibt ihm nur die Erinnerung, wie schön das Leben sein könnte, und jetzt ist ihm erst recht bewußt, in welchem Elend er lebt. Aus dieser Warte gesehen, kann man die scheinbar noble Geste auch grausam nennen. Und so ist es mit allem, was du tust. Du wirst niemals gerecht sein. Du jagst nur einem Traum nach, und ich werde dich nun in einen neuen Traum stürzen, werde im Namen aller, deren Tod du verschuldet hast, Gerechtigkeit an dir üben.«