Zerwas parierte einen Schlag und erhob sich dann in die Luft. So bot er zwar ein besseres Ziel für die Bogenschützen, doch konnte er nicht mehr von Fußkämpfern umringt werden. Er legte seine ganze Kraft in einen erneuten Versuch, in Sartassas Bewußtsein einzudringen, um dort Schmerz, Haß und Tötungstrieb zu überwinden. Sie blickte zu ihm auf. Endlich hatte er sie erreicht. Sie machte einen Ausfall gegen zwei Schwertkämpfer und nutzte den Augenblick, als sie zurückwichen, um sich in die Luft zu erheben. Mit kräftigem Flügelschlag gewann sie schnell an Höhe. Pfeile zischten neben ihr in den Himmel. Auch Zerwas stieg in weiten Kreisen immer höher in den Nachthimmel, bis sie schließlich beide außer Reichweite der Bogenschützen waren.
»Was für eine herrliche Nacht!« Mit der Macht eines Sturmwinds drang Sartassa in die Gedanken des Henkers ein. »Es macht Spaß, in diesem unverwundbaren Körper zu kämpfen. Ich hätte immer weiter machen können. Das beste ist, in ihren Gedanken zu sein, wenn sie merken, daß sie nicht gewinnen können, daß mein nächster Angriff ihnen den Tod bringt. Du fühlst dich wie ein Gott, wenn du ihre Panik spürst.« »Ich weiß«, antwortete Zerwas ihr emotionslos. »Aber du bist kein Gott. Vergiß das nicht! Und dein Körper ist nicht unverwundbar. Man kann dich töten. Wenn man dir die Kehle durchtrennt, wirst auch du sterben. Wenn die schiere Masse deiner Gegner dich zu Boden drückt, bist auch du verloren. Du mußt lernen, deine Beherrschung nicht zu verlieren. Du mußt bewußter kämpfen und darfst dich nicht von deinen Trieben mitreißen lassen. Sonst wirst du nicht lange leben. Nun flieg zurück in unser Versteck und vergiß nicht, dir die Pfeile herauszuziehen. Sie würden dir bei der Verwandlung schreckliche Schmerzen bereiten.«
Zerwas spürte, wie seine Ermahnungen ungehört im Geist der Elfe verhallten. Sie hielt sich für unbesiegbar, doch er spürte auch, daß sie nun heimkehren würde. Bald würde es hell werden, und das Sonnenlicht bedeutete ihren Tod. Sie hob ihre Hand zum Gruß und drehte nach Westen ab. Der Vampir schaute ihr nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden war. Sie hatte Fehler, und doch freute er sich schon jetzt darauf, zu ihr zurückzukehren, wieder in ihren Armen zu liegen, ihr langes Haar zu liebkosen und sich ihren feurigen Küssen hinzugeben. Er war verliebt, auch wenn er sich geschworen hatte, dieses Gefühl nie wieder zuzulassen. Sich nie mehr jemand anderem zu offenbaren. Als er sich das letzte Mal hingegeben hatte, brachte ihm die Liebe nur Qual und Tod.
Der Vampir drehte noch einmal eine weite Runde über dem Lager. Er genoß den kühlen Nachtwind auf seinem nackten Körper, das Gefühl von Macht und Freiheit, das ihn immer überkam, wenn er flog. Plötzlich drang eine fremde Stimme in sein Bewußtsein: »Ich habe dich erkannt, Dämon«, flüsterte sie hämisch.
»Dann fürchte mich!« Zerwas versuchte aufzuspüren, von wo sie kam, doch der Fremde hatte sich sofort zurückgezogen. Im Sturzflug raste der Vampir der Erde entgegen. Er fühlte sich nicht mehr sicher unter dem weiten Sternenhimmel. Versteckt im hohen Gras verwandelte er sich in seine menschliche Gestalt zurück. Er hatte sich Kleider in einem kleinen Tuchbeutel auf den Rücken geschnallt. Hastig legte er sie an. Dann lief er geduckt auf das Lager der Orks zu. Noch immer tobte der Kampf um die Katapulte. Zahllose Brände erleuchteten den Himmel. Die Reiter hatten sich in etliche kleine Gruppen aufgesplittert. So griffen sie viele Geschütze gleichzeitig an. Einige sprangen von den Pferden und schlugen mit schweren Hämmern und großen Äxten auf die Holzrahmen der Steinschleudern ein, während die anderen sie gegen die Angriffe der Orks abschirmten.
Zwischen den Kriegern stachen die weißen Roben der Magier ins Auge. Gerade setzte wieder einer von ihnen mit einem Feuerzauber die zerstörten Reste eines Katapults in Brand. Zerwas faßte sein Schwert mit beiden Händen und stürzte sich in den Kampf.
»Henker, wo bist du gewesen?« Oberst von Blautanns Stimme übertönte das Schlachtgetümmel. »Wir haben dich bei der Offiziersversammlung vermißt.«
»Ich war unterwegs, um das Lager der Orks auszuspähen, um euch zu warnen, falls ihr in eine Falle reiten solltet.«
»Das war aber nicht deine Aufgabe. Du weißt, daß der Kommandant Einzelgänger nicht schätzt. Du wirst nachher in der Stadt viel Spaß mit Marcian haben.« Lachend wendete der Offizier sein Pferd und verschwand im Getümmel.
Die Reiter hatten ihr zerstörerisches Werk schon fast vollendet, als sich die Orks zum Gegenangriff formierten. Sie zogen Gruppen von Bogenschützen zusammen. Marcian ließ seinen Hengst steigen und hob das Schwert über den Kopf. »Zurück! Unsere Arbeit ist getan.« In schimmernder Rüstung mit flammendem Umhang machte er Eindruck. Unweit von ihm kämpfte die Amazone, umgeben von ihren Löwinnen. Auch sie war prächtig gerüstet, trug einen bronzenen Küraß und einen Helm mit wallendem Federbusch.
Zerwas schmunzelte. In seinen einfachen Kleidern sah er aus wie ein schlichter Mann von der Straße. Gekonnt fing er einen Hieb ab. Sein Gegner versuchte, ihn niederzustoßen, doch hatte er nicht mit der Geschicklichkeit des Vampirs gerechnet. Zerwas hakte seinen Fuß hinter das haarige Bein des Orks und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Blitzend schnitt sein Schwert einen Halbkreis durch die Luft und durchtrennte dem gestürzten Schwarzpelz die Kehle.
»Alle zu mir! Das eine müssen wir noch schaffen. Dann sind alle erledigt.« Die heisere Stimme des Schmieds war kaum zu hören. Nur wenige Männer aus seiner Nähe folgten ihm. Seine Frau Misira stand wie immer im Kampf an seiner Seite. Ein Pfeil riß ihr den Helm vom Kopf. Verzweifelt versuchte sie, ihren Mann mit drei anderen gegen die Pfeile der Orks abzuschirmen, während der Schmied wie ein Besessener auf das letzte Katapult einhieb.
Diese Verrückten! Irgendwie mochte Zerwas den bulligen Mann mit seinem breiten Schnauzbart. Die anderen Offiziere machten sich oft lustig über Darrag und sein schlichtes Gemüt, doch in der Schlacht kämpfte er mit dem Mut eines Löwen, und das war alles, was jetzt zählte. Der Vampir rannte zu ihm hinüber.
»Haltet ein, Schmied, und gebt mir auch noch etwas Gelegenheit, die Holzarbeiten der Orks auf ihre Stabilität zu prüfen!«
Breit grinsend und dankbar blickte Darrag ihn an. »Dann zeigt mal, ob ein Henker genauso dreinschlagen kann wie ein Schmied!«
»Plaudert doch bitte ein andermal. Und seht, daß ihr mit eurer Arbeit fertig werdet. Gleich gibt's hier mehr Ärger, als ihr beiden Maulhelden wegstecken könnt.« Misira war mit den anderen Reitern näher an das Katapult herangerückt. Sie drohten, durch die Orks vom Rest der Kämpfer abgeschnitten zu werden.
Stöhnend hieb Darrag wieder mit seinem schweren Hammer auf den mächtigen hölzernen Bogen ein, der dem Katapult die Spannung gab. Zerwas zerschlug unterdessen den geschnitzten hölzernen Löffel, der die Felsbrocken in den Himmel schleuderte, wenn das Geschütz entsichert wurde.
Ein Hagel von Pfeilen ging auf sie nieder. Der Schmied schrie auf. Eines der Geschosse hatte sich in seine Schulter gebohrt. Misira wendete ihr Pferd und kam heran. »Jetzt reicht es, Mann. Für mich mußt du nicht bei jeder Gelegenheit den Helden spielen. Lebendig bist du mir lieber.« Wieder prasselten Pfeile auf die kleine Gruppe. Zwei Pferde wienerten auf und brachen zusammen. Während der eine Reiter in hohem Bogen ins Gras geschleudert wurde, verschwand der andere unter dem Pferdeleib. Misira hatte ihren Braunen neben Darrag gezügelt. Ein zweites Pferd zog sie hinter sich her. »Los, steig auf«, herrschte sie den Verwundeten an. »Wo hast du dein Pferd gelassen, Henker?«
Zerwas zuckte mit den Schultern. »Ist mir im Gefecht abhanden gekommen.«
»Dann steig bei mir auf! Wir müssen hier weg.« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, schlugen wieder rings um die Gruppe Pfeile ein. Mit der linken Hand klammerte sich Zerwas um die schlanke Hüfte Misiras, während er mit der rechten ›Seulaslintan‹ führte. Ihr langes, blondes Haar wehte ihm ins Gesicht, so daß er nicht sehen konnte, was vor ihnen geschah. Plötzlich hörte er Darrag fluchen, und Misira zügelte scharf das Pferd. Wenige Schritte vor ihnen hatten sich Orks mit Bögen aufgebaut. Jetzt waren sie endgültig von den anderen Reitern abgeschnitten.