Gamba konzentrierte sich und versuchte, die Kräfte in den Gewitterwolken zu sammeln. Schweiß rann ihm in Sturzbächen den Körper hinab. Mit einem Aufschrei ließ er die Kräfte frei, die er gebündelt hatte. Ein gewaltiger vielarmiger Blitz zuckte vom dunklen Himmel über die Stadt und schlug in den Turm der Magier ein. Das Gestein ächzte, und rund um die Plattform war eine Halbkugel, umspielt von gleißend blauem Licht, zu sehen.
Gamba fluchte und spuckte aus. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Dann gab er einen kurzen Befehl an die Bogenschützen. Fünf Krieger zogen die Sehnen auf die Waffen und griffen nach den schwarzen Pfeilen, die sie vor sich in den Boden gesteckt hatten. Seinem ersten Ansturm hatte der Schutzzauber der Menschen noch standgehalten, doch diesmal würde er sie zerschmettern. Wieder ließ er seinen Geist in die finsteren Gewitterwolken aufsteigen und bündelte die Urgewalt des Sturmes. Er ließ sich Zeit. Diesmal sollte sein Schlag vernichtend sein. Gamba erzitterte am ganzen Körper, während er mit leerem Blick in den Himmel starrte, seine Augen so verdreht, daß nur noch das Weiße zu sehen war.
Wieder entlud sich ein gewaltiger Blitz über dem Turm der Magier. Sein Gleißen tauchte das Schlachtfeld in kaltes Licht. Die Hunde der Tiertreiber heulten auf. Für einen Augenblick hielt der Schutzschirm, den Eolan und seine Adepten um die Plattform des Turms gelegt hatten, und absorbierte einen Teil der zuckenden weißblauen Blitze, doch dann brach er in sich zusammen. Im selben Augenblick sirrten fünf schwarze Pfeile auf den Turm zu. Keiner der Kampfmagier sollte entkommen. Ihr Tod war das Vorspiel zum Untergang der Stadt. Das Bersten von Steinen ließ Gamba aufblicken. Nachdem er die Blitze gegen die Zauberer gerichtet hatte, war er kraftlos zusammengesunken.
Noch immer zuckte das Himmelsfeuer um den Turm. Aus dem Inneren schlugen Flammen durch die Schießscharten. Dann brach das Gemäuer mit Getöse in sich zusammen. Eine mächtige Wolke aus Staub und Rauch stieg zum Firmament. Als die Sicht wieder klarer wurde, klaffte mitten in der Ostmauer eine mehr als zehn Schritt breite Lücke, gefüllt mit den geschwärzten Trümmern des Turms. Ein Mann in schwarzer Rüstung und ein Ritter mit rotem Umhang waren im wehenden Rauch zu erkennen. Neben ihnen noch einige andere Gestalten. Gamba lachte. Der Kampf der Magier war beendet. Nun würden die Schwerter sprechen, und diese paar Recken würden den Sturm der Orks nicht aufhalten können.
Marcian war verzweifelt. Es kam ihm vor, als stünde er schon Tage in der Bresche. Schulter an Schulter mit dem Vampir hatte er einen Angriff nach dem anderen abgeschlagen, doch wie die Wellen eines Ozeans brandeten immer wieder neue Orkscharen gegen die breite Lücke in der Mauer. Um sie herum lagen die zerfetzten Leiber erschlagener Orks und Menschen. Beide kämpften mit gewaltigen Zweihändern. Waffen, die einen silbrig schimmernden Kreis aus Tod und Verderben um die Recken zogen.
Bislang war es keinem Ork gelungen, diesen Bannkreis des Todes zu durchbrechen, doch langsam erlahmten die Kräfte der beiden Kämpfer. Die Elite der Greifenfurter Krieger hatte in den letzten Stunden ihr Leben gelassen. Zunächst hatte die kleine Schar der Kürassiere von Blautanns den Orks getrotzt. Danach sprangen Lysandras Löwinnen in die Bresche, und jetzt hatte Darrag mit seinen Leuten die Amazone abgelöst. Wieder wichen die Orks zurück.
»Alles in Deckung!« schrie Marcian, doch eigentlich war der Befehl unnütz. Längst kannten alle Kämpfer die Strategie der Orks. Wann immer sich die Schwarzpelze zurückzogen, gingen Schauer von Pfeilen auf die Bresche nieder. Marcian hastete hinter einen halb eingefallenen Torbogen. Einst war das die Pforte zum Hauptturm der Ostmauer gewesen. Jetzt standen von dem mächtigen Bollwerk in der östlichen Verteidigungslinie nur noch einige rußgeschwärzte Trümmer. Zerwas hatte sich denselben Platz als Deckung ausgesucht. Eben erst hatte Marcian gesehen, wie ein Pfeil ihn am Kopf streifte und eine blutige Schramme zurückließ. Jetzt war die Wunde verschwunden.
»Gibt es nichts, was dich tötet?« murmelte der Inquisitor. Er selbst spürte seine Kräfte mehr und mehr schwinden. Seine schwere Rüstung war übersät von Schrammen und Beulen. Sein Körper schmerzte von zahlreichen Prellungen, und sein linker Arm fühlte sich taub an. Obwohl Lancorian die Schußwunde, die er sich am Morgen zugezogen hatte, auf magische Weise versiegelt hatte, war sein linker Arm immer noch schwach.
»Wenn es etwas gäbe, was mich töten könnte, wärst du der letzte Mensch, dem ich es verraten würde.« Zerwas lachte laut auf. »Deine Greifenfeder scheint gegen die Hiebe der Orks nicht zu schützen. Du siehst schlecht aus, Inquisitor. Ich fürchte, wenn du dich nicht aus der Bresche zurückziehst, werde ich dich noch vor Sonnenuntergang sterben sehen.« »Sei dir nicht ...« Krachend schlug ein Felsbrocken zwischen die Trümmer. »Bei allen Göttern! Jetzt ist es vorbei!« Vorsichtig lugte Marcian über den Rand des Torbogens. Die Katapulte der Orks begannen, sich auf die Bresche einzuschießen . Sie würden ihre Stellung räumen müssen. Ein weiterer Felsbrocken schlug wenige Schritt rechts von ihm gegen die Brustwehr der Mauer und riß einen Mann in die Tiefe. Splitter von berstenden Steinen prallten mit hellem Klang an der Rüstung des Inquisitors ab. Bis jetzt hatten Himgis Sappeure ihnen von der Mauer aus Feuerschutz gegeben, doch weiter unter dem Beschuß der Katapulte auszuharren, hieße, nur sinnlos Leute zu opfern.
»Alles zurück!« schrie Marcian verzweifelt. »Wir werden von den Barrikaden in den Gassen aus weiter kämpfen.«
Marcian ließ sich wieder in Deckung rutschen. »Wie lange gibst du der Stadt noch?« fragte ihn der Vampir.
»Wenn die Orks so weitermachen, halten wir morgen früh nur noch die Garnison. Sieht ganz so aus, als würde aus deiner Rache nichts mehr. Es wird jetzt schnell vorbei sein, es sei denn ...« Zischend zog ein Felsblock über ihre Köpfe. Es war an der Zeit, sich abzusetzen. Die Orks schienen zu merken, was vor sich ging. Ganz in der Nähe war das Heulen ihrer Kriegshunde zu hören. Geduckte Gestalten huschten zwischen den Mauerresten und zogen sich in die Stadt zurück.
»Zeit zu gehen, Vampir!« Mühsam zog sich Marcian an der Mauer hoch. Das Gewicht seiner Rüstung schien ihn zu erdrücken. Er war todmüde und hatte kaum noch die Kraft, den mächtigen Zweihänder aufzuheben, mit dem er in der Bresche gefochten hatte. »Ich kann nicht sagen, daß es nett war, dich gekannt zu haben, Zerwas. Fahr zum Namenlosen!«
Stolpernd hielt der Inquisitor auf die Häuser zu. Die Bürger hatten Karren in den Gassen quergestellt und Möbel auf die Straße geworfen, um Barrikaden zu errichten. Mühsam erklomm Marcian das vorderste Hindernis. Beißender Rauch zog durch die Stadt. Schon vor einer Stunde hatte er den Befehl gegeben, sich nicht mehr um die Brände zu kümmern. Er brauchte jetzt jeden, der eine Waffe halten konnte. Aus der Bresche ertönte Hundegekläff. Schon konnte Marcian die ersten der vierbeinigen Bestien erkennen, widerliche Geschöpfe mit langen Reißzähnen. Viele von ihnen trugen plumpe Lederpanzer um den Leib. Diese Kreaturen wollten nur eins: töten. Zerwas kam auf die Stellung zugerannt. Drei Kampfhunde waren ihm auf den Fersen. »Gebt ihm Feuerschutz!« schrie Marcian die Bürger hinter der Barrikade an. In der schweren schwarzen Rüstung kam der Vampir nur langsam voran. Mit einem Schlag nach hinten trennte er einem Hund, der zum Sprung ansetzte, die Vorderläufe ab. Aufheulend stürzte die Bestie, rollte sich mit wild in der Luft zuckenden Läufen auf dem Rücken, während die anderen beiden über sie herfielen und gnadenlos zerfleischten. Zerwas erreichte die Barrikade und zog sich mit einem Ruck an einem umgestürzten Schrank hoch. Dann sprang er auf der anderen Seite herab. Atemlos keuchte er: »Ich muß mit dir reden, Marcian.« Er zog den Inquisitor von der Barrikade in die Gasse.
»Was willst du?«
»Du hast gesagt ... daß du noch ... einen Weg ... siehst! Welchen?« Keuchend blickte ihn der Vampir an.