In der Schwärze der Nacht flog der Drache Deathwing nach Osten über das Meer. Schneller als der Wind reiste er nach Khaz Modan und, was bedeutsamer war, nach Grim Batol. Der Drache lächelte in sich hinein, ein Anblick, der jedes andere Wesen in Todesangst versetzt hätte. Alles lief so, wie er es geplant hatte. Seine die Menschen betreffenden Pläne verliefen glatt. Nur Stunden zuvor hatte er eine Nachricht von Terenas erhalten, in der es hieß, dass man nur eine Woche nach »Lord Prestors« Krönung bekannt geben wolle, dass der neue Monarch von Alterac die junge Tochter des Königs von Lordaeron am Tag ihrer Volljährigkeit heiraten würde.
Nur noch ein paar Jahre – nicht mehr als ein Augenzwinkern in der Lebensspanne eines Drachen –, und er würde die Position erreicht haben, die es ihm ermöglichte, die Vernichtung der Menschen einzuleiten. Nach ihnen würden die Elfen und Zwerge, älter und ohne die Vitalität der Menschen, fallen wie die Blätter eines sterbenden Baums.
Zukünftig würde er an diese Tage mit Freude zurückdenken. Doch jetzt musste sich Deathwing um eine dringendere und noch interessantere Situation kümmern. Die Orks bereiteten sich darauf vor ihre Bergfestung zu verlassen. Im Morgengrauen würden sie die Wagen nach draußen lenken und sich auf den Weg zur letzten Festung der Horde in Dun Algaz machen.
Mit ihnen würden auch die Drachen reisen.
Die Orks erwarteten eine Invasion der Allianz aus dem Westen. Zumindest erwarteten sie Greifenreiter und Zauberer … und einen schwarzen Riesen. Deathwing hatte nicht vor, Nekros Skullcrusher in diesem Punkt zu enttäuschen. Von Kryll wusste er, dass der einbeinige Ork etwas vorhatte. Der Drache freute sich darauf herauszufinden, was die niedere Kreatur beabsichtigte. Er vermutete bereits etwas, aber es würde interessant sein, herauszufinden, ob der Ork vielleicht doch einmal zu einem originellen Gedanken fähig gewesen war.
Der dunkle Umriss von Khaz Modans Küste erschien am Horizont. Deathwing konnte hervorragend in der Dunkelheit sehen und änderte leicht den Kurs, um weiter nach Norden zu fliegen. Es blieben ihm nur noch wenige Stunden bis zum Sonnenaufgang. Das bedeutete, dass er genügend Zeit hatte, um sein Ziel zu erreichen. Dort würde der Drache warten und beobachten und den richtigen Moment wählen.
Und die Zukunft verändern.
Ein anderer Drache flog ebenfalls, einer, der viele Jahre lang nicht mehr geflogen war. Das Gefühl des freien Flugs begeisterte ihn, erinnerte ihn jedoch auch daran, wie sehr er aus der Übung gekommen war. Es hätte sich völlig natürlich anfühlen sollen, ein Teil seines ureigensten Wesens, aber es war ihm fremd geworden.
Der Drache Korialstrasz war viel zu lange Krasus, der Zauberer gewesen.
Wäre es bereits Tageslicht gewesen, hätten die, die seinen Flug beobachteten, einen großen, wenn auch nicht gigantischen Drachen gesehen, größer als die meisten, aber keiner der fünf Aspekte. Er war blutrot und schlank, und in seiner Jugend hatte Korialstrasz vor den Angehörigen seiner Art als gutaussehend gegolten. Zumindest hatte er die Aufmerksamkeit seiner Königin errungen. Der rote Riese war schnell, tödlich und in der Schlacht entscheidungsfreudig. Er hatte zu den entschlossensten Verteidigern der Königin gehört und war ihr wichtigster Diener geworden, wenn es um den Umgang mit neuen, aufstrebenden Völkern ging.
Selbst vor der Gefangennahme seiner geliebten Alexstrasza hatte er viele Jahre in der Gestalt des Zauberers Krasus verbracht und sich nur in seine wahre Gestalt zurück verwandelt, wenn er sie heimlich besuchte. Als einer ihrer jüngeren Begleiter hatte er nicht die Autorität eines Tyranastrasz, aber Korialstrasz wusste, dass er einen besonderen Platz im Herzen seiner Königin einnahm. Deshalb hatte er sich freiwillig gemeldet, um ihr wichtigster Agent unter dem vielversprechendsten und vielseitigsten der neuen Völker zu werden – der Menschheit. Dort sollte er dabei helfen, dieses Volk auf den Weg zur Reife zu führen.
Alexstrasza hielt ihn sicherlich für tot. Nach ihrer Gefangennahme und der Unterwerfung der restlichen Drachenflieger hatte er nur eine Möglichkeit gesehen, um den Kampf fortzusetzen. Und so hatte er sich wieder als Krasus getarnt und der Allianz in ihrem Krieg gegen die Orks geholfen. Es deprimierte ihn, beim Töten seines eigenen Blutes mitzuhelfen, aber die jungen Drachen, die in der Horde aufgewachsen waren, wussten nur wenig über den vergangenen Ruhm ihrer Rasse. Sie lebten selten lange genug, um ihre Blutgier hinter sich zu lassen und die Weisheit zu erlernen, die in Wirklichkeit das Erbe der Drachen war. Als er der Elfe und dem Zwerg geholfen hatte, den Berg und sein Inneres zu erreichen, hatte er das Glück gehabt, zu einem der jungen Drachen in dessen Geist sprechen zu können. Er hatte ihn beruhigt und ihm erklärt, was getan werden musste. Dass der andere Drache zugehört hatte, war ein gutes Zeichen. Zumindest für einen gab es also noch leise Hoffnung.
Aber vieles musste noch getan werden, so viel, dass Korialstrasz sich erneut von den Sterblichen abwenden und sie ihrem Schicksal überlassen musste. In dem Moment, als er die Wagen durch das Medaillon erblickt und die gebrüllten Befehle der Ork-Offiziere gehört hatte, hatte er begriffen, dass sein Kampf kurz vor dem Ende stand. Die Orks hatten den Köder geschluckt und verließen Grim Batol. Sie würden seine geliebte Alexstrasza ins Freie befördern – dorthin, wo er sie endlich retten konnte.
Selbst dort würde es nicht leicht werden. Er benötigte den richtigen Zeitpunkt, einen Hauch von List und natürlich reines Glück.
Dass Deathwing lebte und offensichtlich den Niedergang der Lordaeron-Allianz plante, stellte eine neue und furchtbare Gefahr dar, die für einen gewissen Zeitraum drohte, all das, was Korialstrasz geplant hatte, zunichte zu machen. Und doch wies das, was Krasus entdeckt hatte, darauf hin, dass Deathwing sich zu sehr von der Politik der Allianz vereinnahmen ließ, um über die weit entfernten Orks und die Überreste ihres einst stolzen Geschwaders aus roten Drachen nachzudenken. Nein, Deathwing spielte sein eigenes Spiel mit den verschiedenen Königreichen als Figuren. Wenn man ihn nicht stoppte, würde er sicherlich Krieg und Zerstörung über sie bringen. Zum Glück erforderte ein solches Spiel Jahre, und so machte sich Korialstrasz keine Sorgen um die Menschen in Lordaeron und dahinter. Ihre Belange konnten warten, bis er seine Geliebte befreit hatte.
Auch wenn der Flugdrache die wachsende Bedrohung der Länder, die unter seinem Schutz standen, ignorieren konnte, nagte doch eine andere Sorge an seinen Gedanken, bis er sie nicht länger ignorieren konnte. Rhonin – und die beiden, die ihn gesucht hatten – hatten Krasus, dem Zauberer, vertraut und nicht geahnt, dass für Korialstrasz, den Drachen, die Rettung seiner Königin wichtiger war als das eigene Leben. Die Leben dreier Sterblicher hatten im Vergleich dazu keine Rolle gespielt – so hatte er zumindest bis vor kurzem geglaubt.
Doch nun plagten den Drachen Schuldgefühle. Schuldgefühle nicht nur, weil er Rhonin betrogen hatte, sondern auch weil er die Elfe und den Zwerg verlassen hatte, obwohl er ihnen versprach, sie im Berginnern zu begleiten.
Rhonin war vermutlich schon seit einiger Zeit tot, aber vielleicht war es für eine Rettung der anderen beiden noch nicht zu spät. Der rote Leviathan wusste, dass er sich nicht auf seine Aufgabe konzentrieren konnte, bis er alles für die beiden getan hatte, was möglich war.
An der Spitze der Südwestküste von Khaz Modan, nur wenige Stunden von Ironforge entfernt, suchte sich Korialstrasz einen Gipfel inmitten einer Bergkette aus und ging dort nieder. Er benötigte einige Momente, um sich zu orientieren, dann schloss er seine Augen und konzentrierte sich auf das Medaillon, das Rom der Waldläuferin Vereesa gegeben hatte.
Obwohl sie den Stein in der Mitte vermutlich für ein Juwel hielt, handelte es sich in Wirklichkeit um einen Teil des Drachens. Durch Magie war er in seine gegenwärtige Form gepresst worden, obwohl seine Existenz als eine von Korialstraszs Schuppen begonnen hatte. Die so verwandelte Schuppe verfügte über Fähigkeiten, die jeden Magier erstaunt hätten – wenn sie gewusst hätten, wie man Drachenmagie anwendet. Zum Glück für Korialstrasz wussten das nur wenige, sonst hätte er es auch nicht riskiert, ein solches Medaillon zu erschaffen. Rom, wie auch die Elfe, glaubte, dass das Juwel nur zur Kommunikation taugte und der Drache hatte nicht vor, diese Fehleinschätzung zu korrigieren.