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Der Oberbaumeister arbeitete ganze Nächte durch, entwarf hundert Bauformen, von denen er bis auf zwei alle wieder verwarf. Er brachte die unerschöpfliche Energie auf, die man für ein solches Werk brauchte. Hiram und der zukünftige Tempel waren eins, er arbeitete an seiner Geburt wie an der eines lebendigen Wesens. Ein seltsames Fieber hatte ihn ergriffen, das alle Müdigkeit hinwegbrannte.

Als Schüler der Meister von Karnak wußte er um die Schwierigkeiten seiner Aufgabe: Er sollte ein Heiligtum schaffen, das Jahwe geweiht war, jedoch in Bauweise und Symbolik in der Nachfolge der ägyptischen Tempel stand. Übertragen, ohne Verrat zu begehen, weitergeben, ohne preiszugeben, den Himmel auf Erden darzustellen… Sein Ehrgeiz war riesengroß, die Aufgabe erdrückend.

Wieder ging eine arbeitsreiche Nacht zu Ende. Dieses Mal war Hiram so erschöpft, daß ihm die Hand nicht mehr gehorchte. Er legte seine Schreibbinse beiseite, säuberte die Näpfchen mit schwarzer und roter Tusche, rollte einen Papyrus zusammen und stapelte die Schiefertafeln, nachdem er sie numeriert hatte.

Als er aus der Zeichenwerkstatt trat, betrachtete er die Baustelle. Die verschiedenen Gebäude waren fast vollendet. Die Arbeiter schliefen. Hiram hatte es verstanden, ihnen Begeisterung einzuflößen, ihnen die Gewißheit zu vermitteln, daß sie an einem ungewöhnlichen Abenteuer teilnahmen. An diesem geschlossenen, geschützten Ort herrschte eine geheime Harmonie, die von den rauhen Gesellen, die Zusammenarbeit erst noch lernen mußten, von Stunde zu Stunde mehr geschätzt wurde.

Der Oberbaumeister kam an dem Wachposten vorbei, der gerade abgelöst wurde. Er strebte zum Fuß des Felsens und hob wieder einmal den Blick zum Gipfel. Die Arbeit mußte dort oben beginnen, auch wenn das Unterfangen scheinbar nicht zu verwirklichen war.

Pferdegalopp störte die leichte Luft der Morgendämmerung.

Jerobeam hielt zwei Ellen vor dem Baumeister und sprang zu Boden. Der rote Riese war wütend.

«Der König hat mir die Verantwortung für die Frondienste übertragen», verkündete er. «Ich bin ein treuer Diener, ich gehorche, aber von dir nehme ich keine Befehle entgegen.»

«Das geht nicht», sagte Hiram. «Die Fronarbeit unterliegt keiner willkürlichen Entscheidung, sondern gehört zum Arbeitsplan. Das dürfte Salomo auch so gesagt haben. Du bist mir jeden Tag Rechenschaft schuldig. Ich will wissen, wieviel Männer genau eingestellt sind und was sie tun. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift, und du bist abgesetzt.»

Jerobeam war beeindruckt von Hirams strengen Worten und begriff, daß der Oberbaumeister eine Amtsstellung innehatte, die sich nur schwer erschüttern ließ. Einfache Drohungen richten da nichts aus.

«Du bist ein herrschsüchtiger Mensch, Meister Hiram.»

«Das erfordert mein Amt. Willst du mir dienen, mir wirklich dienen, wie es der König fordert?»

«Dessen kannst du gewiß sein», bekräftigte Jerobeam, doch sein haßerfüllter Blick strafte seine Worte Lügen.

Irgendwann fragte sich Salomo, ob sein Oberbaumeister nicht etwa wahnsinnig geworden wäre. Das Projekt auf dem Felsengipfel, das er ihm darlegte, war wider alle Vernunft.

«Bist du dir sicher, daß es nicht eine Katastrophe wird?»

«Meine Berechnungen können nicht trügen. Es ist zu schaffen, daß wir die Mello-Schlucht auffüllen und die Lücke schließen, die die Stadt Davids von dem Platz trennt, auf dem der Tempel erbaut werden soll. Auf diese Weise bekommen wir einen sanften Hang, auf dem wir das Material leichter heranschaffen, außerdem verbindet er die Unterstadt mit dem neuen Stadtkern.»

Der König prüfte den Plan, den der Baumeister in den Sand zeichnete. Die Vision war so einfach wie überwältigend. Sie drängte sich geradezu auf; sie war selbstverständlich. Wie Salomo geahnt hatte, würde der Tempel allein durch sein Dasein ein neues Jerusalem schaffen, ein himmlisches Jerusalem, wie es den Gerechten in der Schrift versprochen worden war.

Hiram dachte an die gewaltige Arbeit, die der Erschaffung der Pyramiden von Gizeh vorausgegangen war: Man hatte viele Morgen höhergelegenes Land auswählen, riesige Steinbrüche anlegen, die Ebene abgleichen und ausgleichen, Zufahrtsrampen und Hebelvorrichtungen schaffen müssen, deren Geheimnis man nicht preisgegeben hatte, dann eine strenge Organisation der Baustelle organisieren müssen, auf der eine große Zahl von Handlangern und eine kleine Zahl von Landvermessern und Steinhauern arbeiteten. Einen Felsvorsprung durch Aufschüttung mit einem bewohnten Abhang zu verbinden, das erschien im Vergleich zu den einstigen Wundertaten fast als eine leichte Aufgabe.

«Setzt du dabei nicht das Leben deiner Arbeiter aufs Spiel?»

Der Oberbaumeister bedachte Salomo mit einem gereizten Blick.

«Willst du mir eine solche Niedertracht unterstellen? Falls es sich so verhielte, würde ich auf der Stelle mein Amt abgeben. Die Sicherheit der Männer, die unter meiner Aufsicht arbeiten, hat immer Vorrang. Sollte man mir Unfälle zur Last legen können, darfst du mich unverzüglich entlassen.»

Es tat Salomo leid, daß er Hiram gekränkt hatte.

In der darauffolgenden Stunde versammelte der Oberbaumeister die Hunderte von Arbeitern, die bereits auf der Baustelle eingetroffen waren. Die Nebengebäude breiteten sich immer weiter um den schlichten Kern aus, dessen Mittelpunkt die Zeichenwerkstatt war. Einige hatten bereits Erfahrung, andere arbeiteten hier zum ersten Mal. Hiram unterstellte sie den Arbeitern, die er in Ezjon-Geber ausgebildet hatte. Es war noch zu früh, als daß er sie nach den rituellen Graden einteilen konnte, wie man sie in Ägypten kannte. Hiram erteilte jeden Tag seine Anweisungen und konnte sie so ständig überwachen. Er merkte sich Mutige, Faule, Aufmerksame, Schlampige, Fähige und Unfähige. Um die Schlucht aufzufüllen, brauchte man keine besonderen Fähigkeiten, nur eine vollendete Organisation. Daher ernannte Hiram Werkmeister, die seine Befehle ausführen konnten.

Einige Wochen später hatte sich Jerusalems Aussehen verändert. Der Felsen thronte nicht mehr in prachtvoller Einsamkeit, sondern war durch einen langgezogenen Hang erreichbar geworden, der bei den ersten Häusern der Unterstadt endete. Jedermann war stolz auf das Ergebnis und spürte, daß Salomos Traum Wirklichkeit werden könne. Hiram hatte den wilden Fels gezähmt und seine Beschaffenheit verändert. Die hochmütige Felsspitze wurde zur bescheidenen Grundlage des zukünftigen Heiligtums.

Salomo war auf keinen Widerstand gestoßen. Es hatte keine Fehlschläge gegeben, keine Proteste in der Bevölkerung. Israel wurde von einer magischen Welle zu einem neuen, leuchtenden und herrlichen Horizont getragen. Von den benachbarten Landstrichen trafen Glückwünsche ein. Der von Salomo angestrebte Frieden wurde von Tag zu Tag dauerhafter. Der mit Ägypten geschlossene Nichtangriffspakt, die Anwesenheit einer Pharaonentochter am israelitischen Hof schreckten Aufrührer davon ab, sich offen zu zeigen.

Begann jetzt eine Ära des Glücks? Nahm die heilige Stadt auf dem Jerusalem bekrönenden Felsen Gestalt an? Neuer Glaube erblühte in den Herzen. Wenn es nicht gottlos gewesen wäre, einen Menschen als Gott zu verehren, man hätte Salomo angebetet.

Hiram hielt sich im Schatten und gönnte sich weder Ruhe noch Ablenkung. Er ging in seiner Arbeit auf, denn er mußte gute Arbeiter ausbilden, und erhoffte sich, daß aus ihnen die hervorragenden Handwerker würden, die er demnächst brauchte. In Israel konnte er sich nicht auf die von den Landvermessern der ägyptischen Tempel geduldig ausgebildeten Lehrlinge verlassen. In wenigen Monaten mußten die hiesigen Arbeiter etwas anwenden, was die Schüler in der Regel in mehreren Jahren erlernten. Das beunruhigte ihn an diesem verrückten Unterfangen am meisten: Er mußte sich darauf verlassen, daß einige von ihnen eine besondere Begabung zeigten und dann vor Ort eine Lerngemeinschaft bildeten. Wie gern hätte Hiram die Hilfe von anderen Oberbaumeistern gehabt! Aber das war ein frommer Wunsch. Die Bruderschaft des Steins hatte ihm die Wirklichkeit gezeigt, Träume, daß er Hilfe bekam, waren reine Zeitverschwendung.