Der Oberbaumeister brachte es auf eine Liste mit gut fünfzig Namen. Das waren die Lehrlinge, die er in die Wissenschaft des Tempelbaus, die Handhabung der Werkzeuge und das Verlegen der Steine einführen würde. Er schrieb gerade, als der Widerhall eines Aufruhrs am einzigen Zugangstor an sein Ohr drang.
Jemand wollte sich gewaltsam Zutritt zur Baustelle verschaffen.
Gebell begrüßte den herannahenden Oberbaumeister. Hiram erkannte das Gekläff seines Hundes, der sich bis zu ihm durchgeschmuggelt hatte, während Kaleb von mehreren Arbeitern festgehalten wurde. Die Hilferufe des Hinkefußes waren nicht vergeblich. Hiram bewahrte ihn vor den groben Händen, die ihn mißhandeln wollten.
«Weißt du denn nicht, daß dieser Platz für Unbefugte verboten ist?»
«Ich muß mit dir reden, mein Fürst! Deinen Hund, ja, den läßt du ein…»
Und dann stürzte sich Kaleb in eine lange Jeremiade, beschwerte sich, daß man ihn verlassen hätte, daß er fröre, daß er seine Bedürfnisse nicht mehr bestreiten könne, daß er elend zugrunde ginge, daß Jahwe höchstpersönlich ihn verdammt hätte.
Hiram unterbrach den Redefluß und führte ihn bis zu einem Gebäude, das verschlossen war. Er sperrte die Tür auf. Kaleb sah einen Raum, der zweimal so lang wie breit war und dem drei vergitterte Fenster Licht spendeten.
«Wenn du auf die Baustelle willst, mußt du eine Prüfung machen. Hier und jetzt.»
Kaleb fuhr einen Schritt zurück.
«Mein Leben… ist mein Leben dabei in Gefahr?»
«Gefährlich ist sie durchaus», bekannte Hiram.
«Aber du hilfst deinem Diener doch wohl?»
«Das verbieten die Vorschriften der Baustelle.»
«Diese Prüfung… ist sie unerläßlich?»
«Unerläßlich.»
Kaleb trat wieder einen Schritt vor.
«Ich möchte lieber nichts sehen.»
«Wie du willst.»
Alsdann verband Hiram dem Hinkefuß die Augen.
«Bleib schön am Fleck», befahl er.
Der Oberbaumeister betrat den Prüfungsraum, in dessen Mitte er zwei würfelförmige Blöcke aufeinandertürmte. Dann lehnte er ein langes, schmales Brett daran und kehrte zu Kaleb zurück.
«Nimm meine Hand», sagte er. «Hab keine Angst. Wenn du mutig bist, überlebst du.»
Kaleb zitterte am ganzen Leib.
Beim Gehen verstärkte sich sein Hinken. Auf einmal hatte er den Eindruck, es ginge einen steilen und glatten Abhang hoch. Hiram ließ ihn los.
«Ich habe Angst!» schrie Kaleb.
«Weiter», riet ihm Hiram, «nicht zurückgehen!»
Das Brett schaukelte unter Kalebs Schritten. Er verlor das Gleichgewicht, stieß einen verzweifelten Schrei aus, fiel vornüber und war sich gewiß, daß er sich den Hals brechen würde.
Hiram fing den Hinkefuß auf, ehe er den Boden berührte. Er setzte ihn hin, stellte Steine und Brett an der Mauer auf und nahm ihm die Augenbinde ab.
«Du hast bestanden. Von jetzt an gehörst du zur Bruderschaft.»
Kaleb rang noch immer nach Atem.
«Wenn es noch andere Prüfungen wie die da gibt», erklärte er, «dann verzichte ich lieber.»
«Beruhige dich. Ich habe eine ganz bestimmte Aufgabe für dich.»
«Und welche?»
«Du wirst auf der Baustelle meine Augen und Ohren sein. Du gehst überall herum, du beobachtest, du hörst zu. Dein Gedächtnis ist hervorragend. Du sollst zwar nicht verpfeifen, aber vergiß die Lobreden. Berichte mir von Kritik und Unzufriedenheit.»
An der Tür zum Prüfungsraum klopfte Anup fröhlich mit dem Schwanz und wartete auf Hiram. Er hüpfte ihm in die Arme, denn auch er verstand sich aufs Auflauern. So war Hiram nicht mehr ganz allein. Auf diese beiden Aufpasser konnte er zählen.
Kapitel 27
Kaleb machte sich auf Hirams Anordnung hin nach und nach mit jedem Arbeiter bekannt, der auf der Liste des Oberbaumeisters stand. Er gab ihnen das Erkennungswort ‹Meine Kraft ist die des Herrn› und rief sie im Prüfungssaal zusammen. Bei hereinbrechender Nacht stellten sie sich dort ein, und Hiram befragte und umarmte sie. Als sie alle in der nordöstlichen Ecke versammelt waren, erklärte er ihnen, was er von ihnen verlangte: Sie sollten nicht nur genausoviel arbeiten wie ihre Gefährten, sondern auch noch in die Kunst des Bauens eingeführt werden, und das zu einer Zeit, wenn die übrige Baustelle ruhte. Was sie sahen und hörten, unterlag der Schweigepflicht, und die zukünftigen Schüler mußten schwören, bei Todesstrafe nichts davon weiterzugeben.
Drei darunter verzichteten lieber und verließen die Versammlung. Die anderen schworen. Die Unterweisung begann unverzüglich. Kaleb stand in eine Wolldecke eingemummt draußen vor dem Gebäude Wache. Anup half ihm bei der Arbeit.
Die Arbeiter setzten sich auf den Fußboden. Hiram gab ihnen Schiefertafeln und Kreide. Geduldig lehrte er sie die Zeichen der Baumeister-Bruderschaft, Punkt, gerade Linie, Viereck, Rechteck… Er bestand auf einer sicheren Hand, die mit einem einzigen Strich vollendet zeichnete. Darauf machte er ihnen klar, daß auch der menschliche Körper gemäß geometrischer Proportionen gebaut war und für das Wirken eines göttlichen Baumeisters zeugte. Er erlaubte ihnen, die Ewigkeit der vom Geist erschaffenen und der Hand übermittelten Formen zu erfahren. Zum Schluß teilte er ihnen die wichtigsten Gebote der Baumeisterregel mit: Arbeiten für den Ruhm des Schöpfungsprinzips, kein Streben nach persönlichem Gewinn, Wahrung der Interessen der Bruderschaft, Schweigen und Behandlung der Werkzeuge wie lebendige Wesen.
Während die Zufahrtsstraße zum Felsen und seine Planierung vorangingen, erteilte Hiram einen gedrängten Unterricht. Die Neulinge waren zwar nicht alle gleichermaßen begabt, zeigten aber denselben guten Willen und wollten Fortschritte auf dem vom Oberbaumeister vorgezeichneten Weg machen. Nachdem sie ihn zunächst gefürchtet hatten, wuchs ihre Bewunderung von Mal zu Mal. Der Baumeister verstand sich darauf, jeden seiner Schüler so anzusprechen, wie es ihm zukam. Streng, unnachgiebig, unnachsichtig bei Erlahmen, jedoch begeistert, wenn ein neuer Schritt geschafft war.
Zwei Monate später hatten sie den Eindruck, in einer anderen Welt zu leben. Sie sprachen eine andere Sprache, fühlten sich als Brüder, teilten dasselbe Ideal, dieselben Geheimnisse und dieselben Pflichten. Hiram hatte sein erstes Ziel erreicht: Er hatte in einer kleinen Gruppe, die dazu bestimmt war, die anderen Arbeiter anzuleiten, einen inneren Zusammenhalt hergestellt.
Ein entscheidender Schritt kündigte sich an, nämlich die rituelle Lehrlingsfeier. Die Zeremonie fand eines Nachts bei Vollmond statt und dauerte bis zum Morgengrauen. Jeder Neuling wurde nach einer vorübergehenden Isolation vor einen vom Oberbaumeister winklig behauenen Stein gestellt und gelobte, das große Werk weiterzuführen und in Demut am Bau des Tempels mitzuarbeiten. Die völlig nackten Lehrlinge wurden mit reinigendem Wasser bespritzt. Und nachdem sie Blutsbruderschaft geschlossen hatten, ließ Hiram sie die Flamme einer Fackel betrachten, die dazu diente, die Wunden auszubrennen.
Als der Oberbaumeister seinen Lehrlingen die weiße Lederschürze umband, gab er jedem einen neuen Namen, das Symbol ihrer Wiedergeburt im zukünftigen Tempel, dessen lebendige Steine sie sein würden.
Berauscht von Müdigkeit und Glück, schliefen die Schüler ein. Kaleb hatte sein Lager aus frischem Stroh aufgesucht und freute sich, daß die mühselige Zeit des Unterrichtens ein Ende hatte. Anup schlief auch. Die Baustelle lag verlassen. Sie belebte sich wieder mit den ersten Sonnenstrahlen, wenn die Sterne in den Riesenleib der Witwe von Osiris, nämlich Isis mit der Sternenkrone, zurückkehrten und die Welt in unsichtbares Licht hüllten.