Nagsara küßte Salomos Hand und drückte sie. Ach, wie war es schön, ihn auf dem Bett sitzen zu sehen, auf dem sie ruhte! Jeden Tag verbrachte er wenigstens zwei Stunden bei ihr und betrachtete sie mit seinen dunkelblauen Augen, die für sie alle Schönheit der Welt bedeuteten. Die Königin segnete ihren Angreifer. Dank ihm, dank der Wunde, die er ihr zugefügt hatte, genoß sie die Anwesenheit ihres Gebieters, seine Aufmerksamkeit und seine Fürsorge, und die waren noch kostbarer als Liebe.
So stellte sie sich die verständnisinnige Zärtlichkeit alter Ehepaare vor, die wortlos ihre Absichten errieten. Sie wollte zuhören, atmen und die gemeinsamen Augenblicke auskosten, die ihr niemand mehr nehmen konnte. Wenn sie um ihr Leben kämpfte, dann weil sie diesen Aufenthalt in paradiesischen Gefilden, die ja kein Sterbelager waren, in die Länge ziehen wollte.
Nagsara hatte keinen anderen Ehrgeiz, als abertausendmal in Salomos Herz aufzuerstehen. Hier war ihr Garten mit den beschwichtigenden Schatten, hier erblühte die Sykomore, auf deren Ästen überall muntere Vögel saßen, hier strahlte eine Sonne, die die Dämonen der Nacht nicht erreichten.
Sie liebte den König mehr als ihr eigenes Leben, die jugendliche Törin betete ihn an, sie berauschte sich an einem Glück, das überwältigte wie der Sprung einer Gazelle.
Nagsara hatte vergessen, daß die Klinge des Dolches genau die Stelle getroffen hatte, wo in ihrem Fleisch der Name Hiram eingebrannt stand.
Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Beule um Beule, Leben um Leben: So wollte es Israels Gesetz. Der Priester, der versucht hatte, die Königin zu töten, wurde wie ein Sühneopfer gerichtet. Dann wurde er gemäß dem Urteil, das Salomo gesprochen hatte, im Beisein des Hofes gesteinigt.
Der Hohepriester Zadok schenkte den Qualen keine Aufmerksamkeit, sein Blick hing an Salomo.
Kapitel 28
Zadok triumphierte. Er warf ein Dutzend Amulette, Sterne, Ibisse, die den Gott Thot darstellten, Fruchtbarkeitsketten, silberne Schlangen und Nilpferde aus Lapislazuli auf die Fliesen des Audienzsaals.
«Das hier, König von Israel, haben wir auf Meister Hirams Baustelle entdeckt. Diese widerwärtigen Gestalten beweisen, daß es unter den Arbeitern Götzenanbeter gibt. Der Schuldige muß bestraft werden.»
Salomo verstand nur zu gut. Mittels seines Oberbaumeisters wollte der Hohepriester an ihn heran.
«Wagst du es, seinen Namen zu nennen, Zadok?»
«Kaleb, der Hinkefuß, der Diener Hirams. Die Amulette waren im Stroh seines Lagers versteckt.»
«Wer hat sie gefunden?»
«Ein Arbeiter, der Jahwe treu ist, hat mir davon erzählt.»
«Eine Denunziation…»
«Eine mutige Tat, Majestät.»
«Gesteht Kaleb, daß er der Besitzer dieser Gegenstände ist?»
«Er beschimpft nur unaufhörlich die Priester, die ihn gut bewachen.»
«Werden die Priester jetzt zu Polizisten?»
«Sie wachen über Israels Wohl. Und sie fordern Gerechtigkeit und daß Jahwes Gesetz uneingeschränkt herrscht.»
Man trug einen mit Gold verzierten Thron vor das Tor zur Baustelle. Salomo nahm umringt von einer Schar Priester Platz.
Zadok hatte die Kunde verbreitet: Beim Bau von Jahwes Heiligtum hatte man Heiden angestellt, und die befleckten den Tempel des Einen Gottes. Entweder mußte dieses Unterfangen, das des Teufels war, abgebrochen werden, oder man mußte strenge Strafen erlassen. Die Frommen forderten, man solle die Schuldigen mit Lederriemen auspeitschen, man solle ihnen Füße und Hände verbrennen. Die wildesten Eiferer wollten sie oben vom Felsen stürzen.
Salomo war düsterer Stimmung. Zadok spielte ein böses Spiel, das mit dem Aufgeben des Projektes enden konnte, dem der König sein Leben geweiht hatte. Wenn man Kaleb auspeitschte, ganz gleich ob schuldig oder nicht, die Strafe würde Hiram in den Augen seiner Arbeiter herabsetzen. Jeder würde wissen, daß Hiram einem Götzenanbeter Vorschub geleistet hatte. Hirams Name durch einen Skandal befleckt, Salomo blamiert… das waren die Ziele, die der Hohepriester verfolgte. Und der Herrscher durfte nicht ausweichen; er mußte nach dem Tatbestand richten.
Ein beunruhigendes Gerücht machte den König noch besorgter: Hiram hatte sich geweigert, der Leibwache freien Zutritt zu gewähren. Banajas freute sich darüber. Er wollte angreifen, den Zaun niederreißen, die Bettler umbringen und die Hoffart des Oberbaumeisters niederschlagen. Das waren Heldentaten, über die man noch lange in Jerusalem reden würde.
Salomo saß in der Klemme. Selbst wenn die Bruderschaft ihr gutes Recht verteidigte, selbst wenn er gewiß war, daß Zadok hinter diesen Machenschaften steckte, so konnte er es doch nicht dulden, daß man seine Oberhoheit in Frage stellte. Falls das Tor zur Baustelle nicht aufging, würde er gezwungen sein, es gewaltsam zu öffnen.
Salomo hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Warum mußten sich die Menschen unaufhörlich mit der Vergangenheit beschäftigen, warum hielten sie so an lächerlichen Vorrechten fest und vergaßen, daß es gerade die Feier der göttlichen Gegenwart war, in der ihr Heil lag? Mußte er sich wirklich mit Kleinlichkeit, mit Palastintrigen, mit der Spaltung der Provinzen, mit inneren Streitigkeiten und mit dummen Kriegen abfinden, bei denen nur das Leid Sieger war? Salomo war sich bewußt, daß der Thron wackelte, den viele für unerschütterlich hielten. Israels Priester hatten sich verschworen, einen Staat innerhalb des Staates zu errichten, den der König durch die Schaffung eines neuen Tempels, einer neuen geistlichen Hierarchie, einer neuen Begeisterung des Volkes für heilige Dinge abbauen wollte. Zadok, der in den Feinheiten der Macht bewandert war und stark auf sein beneidetes Amt setzte, hatte die Absichten des Herrschers erkannt und war zum Angriff übergegangen.
«Im Namen des Königs, macht auf!» befahl Banajas.
Die Leibwache hatte sich um den einzigen Zugang zur Baustelle verteilt. Lanzen erhoben sich. Die Priester ereiferten sich immer gehässiger. Zadok lächelte. Die Unterbrechung dieses verfluchten Baus war durchaus einige Leichen wert. Israel würde den Willen Gottes kennenlernen und erkennen, so ermahnte er Salomo, daß auch ein König nicht ohne die Zustimmung des Hohenpriesters regierte.
Der Herrscher zögerte, den Befehl zum Angriff zu erteilen. Der würde die Hoffnungen seiner Regierung zerstören und ihn zu einer winzigen Spur in der Geschichte der Menschheit machen. Der Gipfel würde verlassen daliegen, eine feindselige Festung, die einem jungen König trotzte, der geglaubt hatte, unter dem Schutz des HERRN zu stehen. Salomo war sich sicher, daß Hiram nicht vor der Gefahr zurückweichen würde. Er würde seine Arbeiter mitreißen und sich lieber in einen unsinnigen Widerstand stürzen, als das Gesicht zu verlieren.
Banajas musterte Salomo. Der war jetzt zum Eingreifen verurteilt. Wenn er noch länger zögerte, würde sein Ruf leiden.
Langsam öffnete sich das Tor im Zaun.
Hiram trat mit nacktem Oberkörper, einer roten Lederschürze um die Lenden und mit einem schweren Holzhammer in der rechten Hand heraus.
«Wer wagt es, meine Arbeit zu stören?»
«Erkennst du mich nicht?» fragte Banajas. «Ich bin der Befehlshaber der königlichen Leibwache. Ich will deinen gottlosen Diener verhaften.»
«Hinter dieser Schwelle bist du gar nichts. Auf der Baustelle des Tempels gilt nur das Recht der Erbauer.»
Banajas zog das Schwert aus der Scheide. Der Baumeister zeigte nicht die mindeste Furcht. Seine Finger schlossen sich um den Griff des Hammers.
«Kaleb, der Hinkefuß, wird beschuldigt, gotteslästerliche Amulette versteckt zu haben. Das Verbrechen ist eine Beleidigung Jahwes. Er muß exemplarisch bestraft werden.»
«Wer beschuldigt ihn?»
Zadok bedeutete einem Priester, aus der Reihe vorzutreten.
«Ich», sagte dieser hämisch.