In Jerusalem mußten jetzt die schlimmsten Beschuldigungen gegen ihn die Runde machen. Er war ein Feigling und ein Flüchtling, oder? Er hatte Salomo verraten, oder? Er mußte die Verachtung der im Stich gelassenen Arbeiter hinnehmen, die so grausam von jemandem enttäuscht worden waren, den sie als Vater angesehen hatten, oder? Die Verehrung, die der Oberbaumeister genossen hatte, war in Abscheu umgeschlagen, sein Ruf für immer befleckt.
Anup bellte und warnte Hiram vor einem Hausierer, der einen mit Teppichen, Tuniken und Geschirr beladenen Esel zog. Der Wanderhändler war fast kahl, hatte dürre Gliedmaßen, führte eine grobe Sprache und zog von Dorf zu Dorf.
«Was fehlt dir, Gebieter?»
«Geh deines Wegs», sagte Hiram.
Der Hausierer hatte ein scharfes Auge. Der Mann da mochte zwar kein Kunde sein, aber er brauchte ihn dennoch.
«Ich bin auch Barbier, der beste in ganz Israel! Ich schneide Haare, ich parfümiere sie, und ich stutze Bärte. Und was dich angeht, Gebieter, so bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen. Morgen hättest du schon nicht mehr wie ein menschliches Wesen ausgesehen.»
Hiram lächelte und überließ sich den Händen des Barbiers.
«Lebst du hier allein?»
«Die Stille ist mein Freund», erwiderte Hiram.
Der Barbier, für den Klatsch der schönste Leckerbissen war, hielt sich zurück. Er witterte bei diesem Mann eine gefährliche Kraft, die man besser nicht weckte. Und so sammelte er sich auf das Haareschneiden.
«Ich habe Jerusalem lange nicht gesehen», sagte Hiram. «Was ist in der Hauptstadt los?»
«Ein furchtbarer Skandal! Der Baumeister des Tempels hat die Baustelle verlassen. Er ist nach Tyros, in sein Heimatland, zurückgekehrt, denn er ist nicht fähig, Pläne zu zeichnen, die Salomo zusagen. Der König hat sein Projekt aufgegeben. Die Priester sind zufrieden und mächtiger denn je. Salomo ist doch nur ihr Gefangener.»
«Und was hältst du von diesem Hiram?»
«Ein Fremdling… dem ist Israels Schicksal einerlei. Und außerdem ein neuer Tempel… wozu soll der gut sein?»
Während die Sonne unterging und mit dem Erscheinen der Sterne ein neuer Tag begann, richtete Hiram ein ägyptisches Gebet an das Licht, das den Abend weihevoll umgab. Er entzündete eine Öllampe, deren dunkelgoldenes Licht den anderen Lichtern antwortete, die von Haus zu Haus wie eine lange Kette entzündet wurden, welche die Finsternis besiegte. Der Baumeister setzte sich auf das Flachdach seiner vorübergehenden Bleibe und betrachtete den Polarstern, durch den die Weltachse ging, um die sich die unermüdlichen Planeten drehten. Die warme Erde verströmte den Duft von Thymian und Feldblumen, und der verwehte im Frieden eines lapislazuliblauen, unendlichen Himmels. Wie verbittert man in Jerusalem sein mußte, da man sich von einem ungetreuen Oberbaumeister verraten fühlte!
Hiram genoß die köstliche Stille einer Abenddämmerung, der dennoch das Plätschern des Nils, die Majestät der von den Vorfahren erbauten Tempel, das Geheimnis der Wüste fehlte, in der die reinen Linien der künftigen Baudenkmäler geboren wurden. Es drückte Hiram das Herz ab, und er war versucht zu fliehen. Was er wollte, war die gelassene Fülle dieser Augenblicke, nicht der erbitterte Kampf, der in der Stadt Salomos tobte. Er wollte seine Werkzeuge niederlegen, den Bau vergessen und den Weg einschlagen, der nach Ägypten führte, dieser von den Göttern geliebten Erde.
Hiram überquerte einen Wasserweg, durch den man einen kleinen Damm gebaut hatte. Die hebräischen Bauern hatten sich bei den von den Pharaonen erfundenen Methoden einiges abgeschaut und ein Kanalnetz gebaut, das wirksam gegen die Trockenheit half. Hier, an der Grenze zu Samaria, im Norden Jerusalems, am Zusammenfluß von Jabbok und Jordan, hatte der Baumeister gefunden, wonach er suchte. Salomos Auftrag unterlag völliger Geheimhaltung. Daher hatte der Oberbaumeister, der mitten in der Nacht aufgebrochen war, nicht einmal seinen Hund mitgenommen.
Die Priester jubelten über Hirams Flucht. Dieser trügerische Sieg beschwichtigte ihre Gehässigkeit und minderte ihre Wachsamkeit. Salomo wollte Zadok lieber nicht offen angreifen. Da Hirams Plan in ein heikles Stadium kam, hatte Salomo ihn gebeten, so vorsichtig wie möglich vorzugehen, damit die Tat nicht durch irgendeine List der Priesterkaste durchkreuzt würde.
In der unebenen Gegend, die Hiram untersuchte, verbarg sich ein Kupferbergwerk, das in alten Texten von Landvermessern erwähnt wurde. Die Gegend bot vor allem einen ausgezeichneten Ort zum Bronzegießen, denn aus dem vorliegenden Ton ließen sich hervorragende Formen fertigen. Den Arbeitern stand beliebig viel Wasser zur Verfügung. Der Wind reichte für den Abzug kleiner Öfen, die nur von fachkundigen Handwerkern bedient werden würden. Die Bronze konnte im Takt der Hämmer in Sandkanälen entlanglaufen. Wer anders als Hathor, die Herrin der Türkise, lehrte die Kunst des Gießens?
Doch der Oberbaumeister stieß auf eine Schwierigkeit: Das Land gehörte einem Bauern, dessen Ehefrau Tochter eines Priesters aus Zadoks Geschlecht war. Wenn der König mit einem Befehl eingriff, würde das den Zorn des Hohenpriesters auslösen, er würde die Gerichte anrufen und damit den guten Fortgang der Arbeiten aufhalten. Daher hatte sich Hiram verpflichtet, die Angelegenheit mittels eines vorschriftsmäßigen Kaufs zu erledigen.
Der Bauer bearbeitete ein Stückchen Land. Würziger, vertrauenerweckender Erdgeruch stieg Hiram in die Nase. Als der Bauer Hiram erblickte, stellte er die Arbeit ein.
Der Oberbaumeister legte eine Börse mit mehreren Schekeln und einen Vertrag auf einen flachen Stein. Die Summe war viel höher, als das Land wert war.
Ohne Hast ging der Bauer zu seinem Gehöft und holte von dort eine Balkenwaage mit Basaltgewichten, einen Gegenstand, der sehr kostbar war und ihm erlaubte, auch die kniffligsten Tauschhändel durchzuführen, ohne übers Ohr gehauen zu werden. Er las den in schlichten Worten aufgesetzten Vertrag, wog die Silberstücke und versicherte sich, was sie wert waren. Nachdem er sich überzeugt hatte, zog er seine Sandalen aus und reichte sie dem Käufer. Von jetzt an würde er den Boden, der ihm so unerwartet ein Vermögen eingebracht hatte, nicht mehr als Besitzer betreten.
Der Bauer entfernte sich. Es war kein Wort gesprochen worden. Hiram hatte das Land für die Gießereien des Tempels erworben.
Kapitel 30
An der Stelle, wo Jakob mit dem Engel gekämpft hatte, handhabten Arbeiter Metallformen und bedienten riesige Blasebälge, mit denen sie das Feuer in den Öfen schürten. Jede Woche wurden große Mengen Holz angeliefert.
Die ersten Bronzegüsse, die aus den Händen der von Hiram angelernten Bildhauer kamen, waren zwei Löwen. Hiram half in allen Stadien bei der Erschaffung dieser Tiere mit, die am Eingang des Tempels stehen sollten.
Der Oberbaumeister schaffte es, häufig zwischen den Gießereien am Jordanufer und den Steinbrüchen unweit Jerusalems hin- und herzureisen. Die Schichten, die geschlagen werden sollten, waren mit dem Zeichen der ägyptischen Steinhauer gekennzeichnet, das einem Henkelkreuz glich. Hiram hatte den Lehrlingen gezeigt, wie man die Blöcke herausholte: Man schlug um sie herum Rinnen, die breit und tief genug waren, daß man in regelmäßigen Abständen Holzkeile einschlagen konnte. Wichtig war vor allem die Auswahl der Schicht, denn davon hing die Festigkeit des Baus ab. So holten sie Schicht um Schicht den Stein heraus und bekamen Blöcke, ohne daß diese splitterten.
Als sie die ersten Kupfer- und Kalksteinsäulen errichteten, wußte Hiram, daß sich seine Schüler die Grundkenntnisse der Baukunst angeeignet hatten. Daher rief er die Besten unter ihnen in der Zeichenwerkstatt zusammen, wo er sie das lehrte, was Gesellen wissen mußten, wenn sie Mauern hochziehen und die richtig behauenen Steine harmonisch einfügen wollten. Die Schiller in ihren weißen Lederschürzen, die nach jedem Arbeitstag sorgsam gesäubert wurden, schworen einen Eid, nichts von ihrer Wissenschaft an Lehrlinge oder Unbefugte weiterzugeben. Wenn sie die uralte Weisheit kannten, nämlich wie man aus einem Plan ein Gebäude machte, würden sie allmählich die Materie beherrschen, in deren Herzen sich der Geist verbarg. Im Prüfungssaal, der ständig im Halbdunkel lag, zeichnete Hiram zwei Vierecke und verband zwei Ecken mittels einer Diagonale. So machte er den Raum deutlich, in den sich die göttliche Proportion einschrieb, diese heilige Zahl, die aus dem Gold hervorging, das die ägyptischen Baumeister als den größten aller Schätze betrachteten. Vor den erstaunten Augen der neuen Gesellen führte Hiram in die Welt der Würfel, Polyeder, Spiralen, des Sterns der Weisen mit den flammenden Spitzen ein, der dem Reisenden, der sich im Dunkel verirrt hatte, den Weg wies. Er zeigte ihnen, wie man die Quadratur des Kreises löste, wie man ohne Berechnung das Gesetz der Proportionen erkannte, wie man die Schnur mit den dreizehn Knoten handhabte, und gab ihm eine Form, die sowohl Zeichendreieck als auch Kompaß war. Er übermittelte ihnen das Wissen von ewigen Lebensformen, die im Universum geschrieben standen und die sie in den Tempel einbauen mußten, damit er harmonisch wachsen konnte.